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Wie beherrsche ich das Risiko eines Wildunfalls?

Wer einen Wildunfall mit dem Motorrad vermeiden will, muß das Risiko kühl beherrschen. Worauf muß ich mich bei Wildwechsel einstellen? Wie muß ich angepaßt fahren?

Geschätzte Lesedauer: 6 Minuten

Wildunfall mit dem Motorrad – unterschätzes Risiko

Beschwingtes Cruisen durch Wälder und Felder: Was dem Motorradfahrer ein herrliches Erlebnis beschert, läßt beim passionierten Jäger oft ein mulmiges Gefühl aufkommen. Warum? Seit vielen Jahren bin ich auf lauernde Beobachtung geeicht: Wo könnte hier Wild stehen? Wie wird es sich bei meiner Annäherung verhalten? Wo verlaufen Wildwechsel? Dieses Lauern überträgt sich automatisch auf das Motorradfahren, wo das Risiko eines Wildunfalls in entsprechender Umgebung allgegenwärtig ist.

Die Warnschilder am Straßenrand flößen mir nicht ohne Grund gehörigen Respekt ein, denn Wildwechsel gehört nun mal zu den wichtigsten Ursachen für – oft tödliche – Motorradunfälle. Deshalb muß das Risiko eines Wildunfalls kühl und vorausschauend beherrscht werden.

Wenn Anfang Juli die Paarungszeit des Rehwildes beginnt, heißt es: zu jeder Tageszeit ganz besonders aufpassen. Dann herrscht rege Bewegung im Revier. Liebesblind ziehen die Rehe im Juli/August auch über viel befahrene Straßen. Leider haben allzu viele Motorradfahrer keine konkrete Vorstellung davon, welche Gefahren hinter Büschen und Bäumen lauern. Hauptsächlich, wenn (zu) schnell gefahren wird. Merke: Bambi kann tödlich sein.

Auch wenn man sich gegen das Risiko des Wildwechsels nie hundertprozentig schützen kann – aber es ist überlebenswichtig, die Zusammenhänge, Gefahren und Wirkungen zu begreifen. Was muß ich als Motorradfahrer wissen, um das Risiko von Wildunfällen richtig einzuschätzen und mich so zu verhalten, damit mir möglichst nichts passiert?

Wildunfallrisiko Nr. 1: Wildreichtum

Deutschland ist das wildreichste Land Westeuropas zwischen dem Ärmelkanal und Polen. Rehwild, Rot- und Schwarzwild stellen bei uns nicht nur den größten Anteil an der jährlichen Jagdstrecke, sondern auch der „Unfallgegner“ bei Wildunfällen.

statistik wildunfaelle in deutschland 2019/2020

Die Gefahr eines Wildunfalls vor allem durch Reh- und Schwarzwild bleibt weiterhin hoch. ● Quelle: Deutscher Jagdverband / statista, veröffentlicht am 27. Januar 2021

Besonders gefährdet sind (nicht nur) Motorradfahrer in den waldreichen Bundesländern, vor allem in Hessen, Bayern, Baden-Württemberg und Thüringen:

windunfall statistik deutsche bundeslaender 2019 2020

Insbesondere in den waldreichen Bundesländern ist das Risiko eines Wildunfalls besonders hoch. ● Quelle: Deutscher Jagdverband, Januar 2021

Wieviele Wildunfälle sich durchschnittlich pro Tag ereignen, zeigt eine Statistik aus Hessen, dem waldreichsten Bundesland:

anzahl der wildunfaelle pro tag in hessen

Waldreiches Hessen: im Durchschnitt 50 Wildunfälle pro Tag. ● Quelle: Landesjagsverband Hessen, Januar 2021

Besorgniserregend ist, daß die Zahl der Wildunfälle im langjährigen Mittel stetig ansteigt, wie wiederum eine Statistik aus Hessen zeigt:

statistik des langjaehrig steigenden trends von wildunfaellen in hessen

Hessen als Beispiel: Die Wildunfälle nehmen im langjährigen Trend zu. ● Quelle: Landesjagdverband Hessen, Januar 2021

Verstärkt wird diese Risikotendenz durch zwei Faktoren:

  1. Die meisten Wildunfälle passieren in den Bundesländern, die am waldreichsten sind und zugleich den größten Bestand an Motorrädern haben, vor allem Bayern, Baden-Württemberg und Hessen.
  1. Die Zahl der Wildunfälle ist im Jahr 2020 insgesamt gestiegen, obwohl die Jahresgesamtfahrleistung in Deutschland coronabedingt zurückging. Der Benzinverbrauch sank um 13,3 %. Kurz gesagt: Obwohl weniger gefahren wurde, passierte mehr.

Ein Wildunfall mit dem Motorrad stellt ein erhebliches Risiko dar, wie aus den neuesten Statistiken der Kfz-Versicherer hervorgeht. Demnach rangieren Wildunfälle sowohl der Anzahl der Schadensereignisse als auch der Schadenssumme nach an zweiter Stelle (hinter den Glasbruchschäden):

wildunfall mit dem motorrad ist ein grosses risiko: statistik der teilkaskoschaeden fuer pkw in deutschland 2018

Quelle: Statista 2020. Veröffentlicht von Statista Research Department am 14.11.2019

wildunfall mit dem motorrad ist ein grosses risiko: statistik der versicherungsleistungen fuer teilkaskoschaeden in deutschland 2018

Quelle: Statista 2020. Veröffentlicht von Statista Research Department am 14.11.2019

Der Reichtum an Wildtieren ist ein großes Geschenk der Natur. Ebenso wie der Reichtum an Wäldern und vielfältig gegliederter Landschaft. Dies alles macht unser Land zu einem herrlichen Motorradrevier. Aber dieser natürliche Reichtum birgt auch besondere Gefahren für uns Motorradfahrer. Deshalb ist vor allem in Waldgebieten und zu bestimmten Jahreszeiten äußerste Vorsicht geboten.

Wildunfallrisiko Nr. 2: Wildwechsel

Wann und wo muß ist das Risiko eines Wildunfalls mit dem Motorrad am größten? Wenn das Wild zieht, muß mit verstärktem Wildwechsel gerechnet werden. Unbedingte Achtsamkeit ist deshalb immer in folgenden Zeiten, Gegenden und Situationen geboten:

Abend- und Morgenstunden Wild wechselt zwischen seinen Einständen und der Feldflur aus- oder zurück.
GanztägigWildschweine sind unberechenbar, da mittlerweile häufig auch tagaktiv. Deshalb können sie auch am hellichten Tage auf der Straße auftauchen.
Wenn der Regen aufgehört hat Nach Durchzug eines Niederschlagsgebietes fängt das Wild gerne an zu ziehen.
Jagdsaison im Herbst/Winter Wild wechselt oft hochflüchtig über die Straße, wenn die Reviere durch Drückjagden großflächig beunruhigt sind.
Während der Paarungszeiten:
November - Ende Januar Schwarzwild (Wildschweine). In vielen Gegenden aber auch ganzjährig.
Juli – August Rehwild
September – Oktober Rotwild
Anfang Oktober - Mitte November Damwild
RudelGrößere Wildtiere sind Herdentiere: Wenn eines an der Straße steht, sind meist noch weitere Artgenossen in der Nähe. Nachdem ein Rudel im geschlossenen Sprung über die Straße gesetzt hat, besteht immer noch die Gefahr, von einem Nachzügler erwischt zu werden.
MaisfelderInfolge der Vermaisung der Landwirtschaft nutzen mittlerweile ganze Wildschwein-Familien die riesigen Maisfelder als Sommerresidenz. Dort fressen sie sich nach Herzenslust voll und ruhen sich aus. Sie brechen aus der Deckung hervor, sobald es ihnen ungemütlich wird.
Obstbäume an Chausseen Ihr Fallobst wird von Wildtieren gerne angenommen.
AusflugsgegendenWild wird dort oft durch Ausflügler aufgescheucht und flieht.

Wildunfallrisiko Nr. 3: Nicht angepaßte Geschwindigkeit

Über die Gefahr, sich von der Geschwindigkeit vereinnahmen zu lassen, haben wir schon hier gesprochen. Ganz werden sich Wildunfälle nie vermeiden lassen, aber angepaßte Geschwindigkeit schafft auf jeden Fall überlebenswichtige Reaktionsreserven und mindert so das Risiko eines Wildunfalls für den Motorradfahrer.

Das heißt: Man muß Wald- und Straßenränder sorgfältig im Auge behalten und bremsbereit fahren. Denn in etwa 80 Prozent aller Fälle taucht das Wild nur 20 Meter und kürzer vor dem Fahrzeug auf. Wer da zu schnell fährt, hat keine Chance mehr.

Wildunfallrisiko Nr. 4: Der Aufprall

Hat jemand wirklich eine konkrete Vorstellung davon, welcher Wirkung ein Motorradfahrer bei der Kollision mit einem Wildtier ausgesetzt ist?

Rechnen wir nach: Ein Motorradfahrer fährt mit (in vielen Fällen unzulässigen) 100 km/h durch den Wald. Auf einer schweren Maschine, mit der zusammen er 380 kg auf die Waage bringt. Aus einer Waldschneise rennt ein kapitaler Keiler (80 kg, 45 km/h) rechtwinklig auf die Straße zu und trifft voll das Motorrad.

Frage: Mit welcher Energie wird der Motorradfahrer ins Jenseits befördert?
Antwort: (einfache Physik, Lehrstoff Klasse 9): 37,11 kJ
Variante: Der Schwarzkittel kommt von schräg vorn (45°). Dann erhöht sich die Auftreffenergie auf satte 56,76 kJ.

Zum Vergleich: Ein Geschoß des NATO-Standardkalibers 7,62 x 51 mm hat eine Auftreffenergie von 3,5 kJ. Die Wucht eines Wildschweines beträgt also (die Querschnittsbelastung einmal beiseitegelassen) das 10- bzw. 16fache eines Infanteriegeschosses.

wildunfall mit dem motorrad ist ein grosses risiko: Gedenkkreuz am Straßenrand für ein Opfer des Strassenverkehrs

Das Wildunfallrisiko für Motorradfahrer bleibt eine stete Gefahr

Deshalb Überlebensregel Nr. 1:

Extremes Mißtrauen und Vorsicht schon bei vermutetem Wildwechsel !

 

Was tun nach einem Wildunfall?

Über Verhaltensregeln nach einem Wildunfall und bei Auffinden von im Straßenverkehr getötetem Wild informiert der Deutsche Jagdverband.

 

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Comments (6):

  1. Wurzi

    28. Mai 2021 at 19:37

    Alles bis zum Aufprall sehr informativ. Aber dann…
    Nadelspitze hat eine Fläche von 0,1mm. Wenn man eine Nadel mit der Kraft entspr. 1kg Gewicht drückt, hat man 1.000.000 bar Druck. Also fast 1.000x so viel wie im Marianengraben. Schwachsinniger Vergleich? Ja, weil er überhaupt nichts zur Vorstellung beiträgt (Marianengraben pikst nicht und ein Wildschwein durchlöchert einen auch nicht).

    Besonders interessant wäre, hier Tipps zu geben, wie man einen Aufprall überlebt.
    Nämlich, u.a.:
    Bei Rehen z.B. drüber fahren. Das Motorrad ist stabil. Man muss halt den Lenker schon festhalten.
    Sich trauen, in Kurven zu bremsen (der Kamm’sche Kreis erlaubt mehr als die meisten glauben).
    Wenn’s nicht reicht, abwägen: Lücke suchen (lieber stürzen in Wiese oder aufrecht gegen Baum?)
    Zuversicht. Also nicht mehr oder weniger absichtlich stürzen oder Motorrad „hinlegen“ als Notwehr.
    Mentales Training für solche Situationen gegen Panik (also Moped auf Ständer, Situationen vorstellen und Reaktionen einüben). Nur dann kann man obige Entscheidungen auch im 1/10s Bereich treffen.
    Viel Glück!

    Antworten
    • Christian

      28. Mai 2021 at 20:11

      Vielen Dank für Deinen Kommentar! Du hast völlig Recht, die Reaktion bei einer drohenden Wildkollision muß man verinnerlichen. Bernt Spiegel beschreibt in seiner „Oberen Hälfte des Motorrads“ sehr eindrucksvoll, wie man das trainiert und danach handelt. Im Zweifelsfalle gibt es wohl nur eines: dran – drauf – drüber. Allerdings nur bis zur Größenordnung eines Rehes. Bei stärkerem Schalenwild bleibst Du unweigerlich zweiter Sieger. Weil ich mein eigentliches Thema nicht unnötig in die Breite ziehen wollte, habe ich von einer fahrtaktischen Diskussion abgesehen. Diese ist in einem eigenem Post sicher besser untergebracht.

      Zum Vergleich mit der ballistischen Wirkung möchte ich auf meine wohlerwogene Einschränkung hinweisen: „die Querschnittsbelastung einmal beiseite gelassen“. Damit dürfte alles wieder im Lot sein.
      Viele Grüße, gute Fahrt und Wild nur auf dem Teller, aber nicht auf dem Lenker.
      Christian

      Antworten
  2. Don

    6. Juni 2021 at 22:46

    Hallo, der IFZ empfiehlt bei Wildwechsel im Zweifel nicht auszuweichen, da statistisch die meisten schweren Unfälle durch ein überraschendes fehlerhaftes Ausweichmanöver gegen Baum oder Auto passieren. Klingt schräg, war in dem Artikel aber nachvollziehbar begründet:
    Wildwechsel : https://www.ifz.de/wildwechsel/

    Antworten
    • Christian

      6. Juni 2021 at 23:11

      Wenn man im Fall der Fälle man die Wahl hat, wen man umnageln will bzw. muß – Baum oder Bambi – dann im Zweifel (leider) das Stück Wild. Dabei bleibt dem Fahrer noch eine gewisse Handlungsoption, im Gegensatz zum unkontrollierten Abflug ins Gehölz. Aber der eisenharte Entschluß dazu muß schon lange fest verinnerlicht sein, bevor es zu einer solchen Begegnung kommt. Darin ist dem IfZ unbedingt recht zu geben.
      Viele Grüße und unfallfreie Fahrt, Christian

      Antworten
  3. Henry Gerwien

    8. April 2023 at 09:08

    Hi Christian,
    du sprichst das Buch von Bernt Spiegel an: „Die obere Hälfte des Motorrads“, das beste Buch, das ich je in Händen hielt! Aus meiner Sicht DIE Motorrad-Bibel schlechthin.
    Ich hatte einmal die Ehre, mit Bernt Spiegel einen eigenen Unfall von 2013 zu analysieren. Nachdem ich geschildert hatte, was passiert war, hat er die entscheidenden Faktoren genannt, u.a. die „handlungssteuernden Programme“, zu deutsch: Zu Saisonbeginn noch nicht eingeübte, automatisierte Handlungsabläufe (die man immer wieder neu einüben muss, die Feinheiten bleiben nicht „für immer“)! Er berichtete mir, dass Rennprofis an die 10Tkm Teststrecke absolvieren, bis das erste Rennen startet, weil da müssen sie es können. Selbst bei neuen Bremsbelägen werden erst einige Runden Probe gefahren, bevor die Ampel auf grün schaltet. Und je älter wir werden, umso genauer müssen wir uns jede Saison einfahren.
    Grüße aus dem verhangenen Taunus
    von Henry
    —————–

    Antworten
    • Christian

      17. April 2023 at 19:51

      Lieber Henry,
      nach Rückkehr aus dem Urlaub kommt mein Dank für Deine Rückmeldung zwar verspätet, aber nicht minder herzlich. Was die Notwendigkeit des permanenten Auffrischens von Handlungsabläufen anbetrifft, gebe ich Dir absolut recht. Besonders wichtig wird das mit dem Fortschreiten der Lebensjahre, wenn die Leistungsfähigkeit des „Arbeitsspeichers“ zunehmend nachläßt. In puncto Wildwechsel muß ich allerdings sagen: Ich habe den Vierbeinern gegenüber ein über lange (Jagd-)Jahre eingeschliffenes Mißtrauen, das mich vielleicht schon vor Schlimmerem bewahrt hat.
      Viele Grüße mit den besten Wünschen für eine tolle Saison
      Christian

      Antworten

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