Eine vorweihnachtliche Erkundungstour in Moskau ist Motorradfahren in der totalsten Nebensaison. Väterchen Frost regiert. Was geht ab in der Winterstarre?
Winterlicher Moskauer Bilderbogen
Eine vorweihnachtliche Erkundungstour in Moskau bedeutet Motorradfahren in der totalsten denkbaren Nebensaison. Wenn Väterchen Frost im Dezember eine Gnadenfrist gewährt und erst im Januar kommt, bietet sich jetzt die wirklich allerletzte Gelegenheit, um sich umzusehen: Was geht so ab in der Stadt? Was machen dann die Menschen? Wie bereitet sich die russische Metropole auf die monatelange Winterstarre vor?
Wer in der russischen Hauptstadt unbedingt auffallen will, braucht dazu nicht unbedingt einen Ferrari oder einen Mercedes G 63 AMG 6×6. Dafür genügt eine vorweihnachtliche Erkundungstour in Moskau mit dem Motorrad. Dann bekommt man jegliche Aufmerksamkeit, die man sich nur wünschen kann. Vom Verkehrspolizisten bis zur langbeinigen Blondine.
Aber das ist nicht Zweck unseres heutigen Unternehmens. Wir wollen einmal sehen, was so los ist in der Stadt, bevor alles zu Schnee und Eis erstarrt ist. Doch wer sich auch unter den miesesten Umständen auf den Weg macht, muß schon ein regelrechter Antitourist sein. Denn in dieser Jahreszeit herrscht zuverlässig graues Schmuddelwetter. Dazu säumen schon die ersten Schneereste den Straßenrand. Dennoch: Es ist interessant, was dabei herauskommt. Deshalb fahren wir einfach einmal ein bißchen dort herum, wo es für gewöhnlich immer etwas zu sehen gibt.
Kalter Winterhauch über der Stadt
Die Lomonossow-Universität ist über alle Architekturepochen hinweg ein höchst eindrucksvoller Bau. Nicht nur wegen seiner Größe, sondern auch wegen der ästhetischen Wucht, die er ausstrahlt. Im Sommer herrscht hier ringsherum auf dem Gelände munteres Studententreiben. Aber jetzt im Winter ist erst einmal für die nächsten Monate Schluß mit Lustig. Denn der rigorose Lehrbetrieb des Wintersemesters spielt sich im Inneren ab.
Was kann im kalten Winter Wärme spenden? Da wird ein Pelzchen allein wird wohl nicht reichen. Deshalb muß man schon mit anderen Mitteln zusätzlich für den Tag vorsorgen. „Treibstoff“ heißt das im Volksmund. Genau das, was der angeschlagene Herr hier im Bild mitführt.
Gleich nebenan ein Laden für Kindergetränke. Feine Sache. Vor allem, wenn er Zusätzliches im Angebot führt. Volkstümliche Getränke wie Wodka, Wein und Bier. Man beachte: Bier gilt in Rußland nicht als Alkohol, sondern als „Erfrischungsgetränk“.
Rußland ist das waldreichste Land der Erde. Aber der aus einem Stahlrohrgestell zusammengebaute künstliche Weihnachtsbaum, den sich die Hauptstadt an exponierter Stelle leistet, ist wirklich grenzwertig. Zwar läßt sich über Geschmack trefflich streiten. Aber eine echte große Tanne sollte sich in den Weiten der Taiga doch wohl auftreiben lassen.
Doch Wind und Kälte sind kein Grund, nicht allerlei Trödel und pseudo-sowjetischen Kitsch feilzubieten. Schließlich wissen die Verkäufer: Jeden Tag steht ein Dummer auf, der ihnen so etwas abkauft.
Tiere in der Stadt
Wilde Hunde schließen sich im Herbst/Winter zu kampfstarken Rudeln zusammen. Richtige Stadtwölfe, die eisenhart ihr Revier verteidigen. Der Chef bestimmt, wo es lang geht, und wehe, ein Unterling muckt auf. Diese festgefügte Hierarchie sichert ihnen das Überleben in feindlicher Umwelt. An die Menschen haben sie sich gewöhnt. Wenn das Winterwetter besonders hart ist, suchen sie sogar in der U-Bahn Schutz und werden von Passanten gefüttert.
Russische Volksfrömmigkeit
Was wäre eine vorweihnachtliche Erkundungstour in Moskau ohne den Besuch einer Kirche? Hier lassen sich am besten die Menschen aller gesellschaftlichen Schichten und ihre Volksbräuche beobachten. In meiner stillen Ecke fängt mich die religiöse Atmosphäre ein und gibt mir Gelegenheit zu studieren, wie sich hier die ganz normalen Leute verhalten, denen ich tagsüber auf der Straße begegne.
Die Kirche besucht man in Rußland nicht nur zum Gottesdienst. Den ganzen Tag herrscht ein reges Kommen und Gehen. Für ein paar Rubelchen kaufen die Leute am Eingang eine dünne Kerze und stellen sie zum Gebet an einer Ikone auf. Der verwinkelte Kirchenraum ist erfüllt vom würzigen Duft des Bienenwachses. Es sind beileibe nicht nur alte Frauen, die hier Einkehr suchen. Auch Angestellte aus der Nachbarschaft finden sich hier, ebenso Straßenarbeiter, langbeinige Mädchen mit hochhackigen Stiefeln und Kopfschleier und immer öfter auch Soldaten in Uniform. Daß die Kirchenbesucher beim Kommen und beim Gehen dreimal das große orthodoxe Kreuz schlagen und sich dabei verbeugen, ist obligatorisch. Ausnahmslos.
Siegeserinnerungen
Der „Große Vaterländische Krieg“ wird wohl nie aus der öffentlichen Erinnerung verschwinden. Ebensowenig wie Monumentalbauten und Denkmäler zum Gedenken hieran. Auf dem Ehrenplatz im Siegespark auf dem Poklonnaja-Hügel pfeift mir schneidend kalter Wind um die Ohren. Mutterseelenallein streife ich durch das weite Gelände. Dies ist wohl der einsamste und unwirtlichste Ort, den man heute in Moskau besuchen kann.
Die Straße um den Siegespark ist mit Gefechtsfahrzeugen aller Zeiten und Größen garniert. Im Sommer ein beliebtes Ausflugsziel für Familien. Buben und auch Mädchen mit großen weißen Schleifen in ihren dicken Zöpfen klettern dann munter auf dem Gerät herum. Aber auch hier bin ich heute der einzige Besucher. Einer, der zu frösteln beginnt.
Moskauer Tiefen
Meine vorweihnachtliche Erkundungstour in Moskau hat auf dem Siegesplatz ihren Kältepol erreicht. Deshalb ziehe ich mich zum Aufwärmen in die Metrostation Park Pobjedy zurück. Wenn es irgendwo warm sein kann, dann hier. Mit einer Tiefe von 84 m ist sie die dritttiefste U-Bahnstation der Welt (die beiden tiefsten sind in St. Petersburg). Eine Rekordlänge haben auch die Rolltreppen. 740 Stufen auf 126 m Länge befördern die Fahrgäste in langen drei Minuten in die Tiefe. „Majestätisch“ sollte der Innenausbau der Station werden: roter und weißer Marmor an den Wänden, schwarzer und grauer Granit als Bodenbelag. Nicht zu vergessen natürlich das Kolossalgemälde des Lenin-Preisträgers Schurab Zereteli.
Menschen in der Stadt
Wie arm die Menschen dran sind, die es nicht warm haben können, sehe ich am Nowi Arbat. Ich besorge schnell etwas in der größten Buchhandlung Moskaus und schaue beim Herausgehen in eine Unterführung. Dort sitzt, dick eingehüllt und mit einer Blechdose vor den Füßen, regungslos eine alte Bettlerin. Ein paar Kopeken liegen darin. Schmerzlich für eine Frau, die mit Krieg und Sowjetunion bestimmt einen sehr harten Lebensweg hinter sich hat. Sie tut mir leid. Vielleicht rettet ihr mein Rubelschein den Tag.
Warm angezogen hat sich ein paar Straßenviertel weiter eine Gruppe molliger Frauen, die einen Marktstand nach Strümpfen und Modeschmuck durchforsten. Lustig klingen ihre hellen Stimmen durch die kalte Winterluft. Sie prüfen aufmerksam dies und das. Dann setzen sie mit billiger Beute aus chinesischer Produktion munter scherzend ihre Einkaufstour fort. Warm angezogen. Bei russischer Winterkälte ist ein guter Pelz eben durch nichts zu ersetzen.
Grüße aus Usbekistan. Größer könnte der Klimaunterschied wohl nicht sein: An einem anderen Marktstand verkauft ein Usbeke Nüsse und Trockenfrüchte aus seiner südlich-warmen Heimat. Er läßt mich ausgiebig probieren. Schließlich erstehe ich eine Tüte Pistazien und getrocknete Beeren zum Knabbern zu Hause.
Am Stand nebenan wird Honig verkauft. Honig aus allen Teilen Rußlands, von den Sonnenblumenfeldern des Kuban bis auf die Höhen des Altai. Nirgendwo habe ich besseren Honig bekommen als in Rußland. Vor allem: Honig ist hier ein Volks-Heilmittel gegen alle möglichen Wehwehchen und Krankheiten. Die Verkäufer fragen immer zuerst, wofür oder wogegen man den gelben Seim denn haben möchte. Schließlich landet ein Kilo Buchweizenhonig von der Wolga in meinem Heckkoffer.
Moskauer Straßen
Vom Nowi Arbat fahre ich weiter stadteinwärts Richtung Rathaus. Und was sehe ich: Ein ganzes Geschwader blauer Polizei-Motorradgespanne in nachtblauer Lackierung. Noch nie vorher gesehen. Da sich die wartenden Polizisten offensichtlich etwas langweilen, plaudere ich ein wenig mit ihnen. Von ihren BMWs sind sie verständlicherweise begeistert.
Die Moskauer Stadtverwaltung ist rigoros im Freihalten der Straßen im Winter. Solange es irgend geht, schickt sie rudelweise Tankwagen mit Salzlake los, die die wichtigsten Durchgangsstraßen besprühen. Sie glänzen dann naß und sind auch bei Temperaturen um den Gefrierpunkt noch problemlos zu befahren. Das hält zwar eine Weile vor, ist aber Gift für jede Karosserie.
Wenn es aber zu sehr schneit, kommen die „Kapitalisten“: Riesige Räumgeräte mit gierigen Greifern, die den Schnee zusammenraffen und per Förderband auf daneben stehende LKWs schaffen. Der Schnee wird dann irgendwo in die Moskwa gekippt.
Nichts geht über Halbkette im Schneewinter
Weil die Straßen verläßlich freigesalzen sind, fahre ich auf der Autobahn „Don“ nach Süden in den Vorort Gorki Leninskie. Wie der Name andeutet, war dies einst der (von Adligen requirierte) Landsitz von W. I. Lenin. Dort will ich eine technische Besonderheit des Automobilbaus besichtigen: Einen Rolls Royce Silver Ghost mit Halbkette hinten und Skiern vorn. „Ein Geschenk der britischen Arbeiterklasse für Wladimir Iljitsch“, wie es lange hieß. Britische Proletarier haben eben Stil. Dieser Sonder-RR war wohl eines der nobelsten Verkehrsmittel, um vom Kreml aus hinaus aufs Land zu fahren.
Nun ja, in Wahrheit ließ ihn Lenin höchstpersönlich im Jahre 1922 beschaffen. Für £ 1.850 und mit einem 15 %igen Großkundenrabatt als Anerkennung dafür, daß das junge revolutionäre Rußland von Großbritannien Kriegsflugzeuge kaufte. Umkonstruiert wurde das schöne Teil von dem französischen Militäringenieur Adolphe Kégresse, vormals Leibchauffeur von Zar Nikolaus II. Der Umbau erfolgte in den Putilow-Rüstungswerken in Petrograd.
Dann drehe ich auf dem Moskauer Autobahnring (MKAD) nach Nordwesten ein. Links von mir, zwischen OBI und IKEA, ragt eine überdimensionale rote Panzersperre hervor. Bis hierher kamen die Deutschen im Winter 1941. Ich fahre ein Stück weiter nach Archangelskoje und entdecke auf einem matschigen Feld ein weiteres Halbkettenfahrzeug, einen deutschen Schützenpanzer Sd. Kfz 251 . Wer weiß, welche Odyssee dieses Fahrzeug wohl hinter sich hat.

Zufallsfund: Ein Mittlerer Schützenpanzer Sd. Kfz 251 auf einem Feld im Moskauer Vorort Archangelskoje
Service für Fahrer und Maschine
Bei aller Liebe zum Motorradfahren, aber jetzt wird es selbst mir zu kalt. Flott geht es auf breiten Ausfallstraßen zurück ins Zentrum. Anlaufpunkt ist „meine“ Autowaschanlage. Sie wird von einer kirgisischen Familie betrieben, die meine Maschine mit höflichster Aufmerksamkeit zum Abstrahlen und Abdampfen entgegennimmt.
Praktischerweise ist in diese Waschanlage mit einem (hervorragenden) kirgisischen Restaurant verbunden und mit einer Teestube, in die ich mich schlotternd zurückziehe. Ein Onkel des Clans versorgt mich mit dampfendem Tee und süßem Gebäck. Ich mache es mir auf den weichen Polstern bequem – und schon ist die Welt wieder in Ordnung.
Dann geht es die letzten dreihundert Meter in die Tiefgarage zurück. Morgen mache ich die Maschine dann endgültig winterfertig und hoffe, daß mir die kalte Zeit bis zur nächsten Saison nicht zu lange wird.
Fazit
- Moskau ist zu jeder Tages-, Nacht- und Jahreszeit eine tolle Stadt. Viel zu schade für einen kurzen Stopover auf dem Weg in den fernen Osten. Außerdem bietet die weitere Strecke bis zum Ural fahrerisch keinen nennenswerten Extra-Bonus. Also: Zeit nehmen für Moskau und lieber eine Anschlußrunde über St. Petersburg und das Baltikum drehen.
- In Rußland wird niemand untergehen. Schon gar nicht, wenn er mit dem Motorrad daherkommt. Ich habe die Menschen dort als hilfsbereit, freundlich und liebenswert kennengelernt.
- Der angenehmste Monat für eine Motorradtour nach oder in Moskau ist der Juni, ggf. auch die erste Hälfte Juli. Danach wird es in den Weiten des Landes recht heiß.
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Aktualisiert am 05/03/2021 von Christian