Überschätzte Reiseziele für Motorradtouren gibt es mehr als man glaubt. Welche gehören dazu? Hier ist meine Hitliste der besseren Alternativen.
Geschätzte Lesedauer: 6 Minuten
Warum werden Reiseziele überschätzt?
Wer die Attraktivität bestimmter Reiseziele überschätzt, riskiert leicht den Erlebniswert seiner mit schönen Erwartungen angetretenen Motorradtour. Enttäuschungen sind dann unvermeidlich. Wertvolle Reise- und Urlaubszeit wird verplempert. Nicht selten bleibt von der gesamten Tour ein schales Gefühl zurück.
Zum Trost: Dies liegt meist weniger an fehlender Orts- und Landeskenntnis. Vielmehr steckt hinter der Überschätzung meist eine große Hype, die um bestimmte Gegenden und Reiseziele gemacht wird. Davon sollte an sich nicht anstecken oder beirren lassen.
Das Spektakuläre interessiert mich nicht.
— Antonio Citterio, italienischer Architekt und Designer
Deshalb sollte man sich schon vorher bei der Tourenplanung gut überlegen: Ist ein bestimmtes Reiseziel wirklich einen Umweg oder einen Zusatztag wert? Damit meine ich nicht die bekannten Metropolen, denn diese besucht man besser im Rahmen einer konventionellen Städtetour. Vielmehr tragen die meisten überschätzten Reiseziele „große Namen“. Diese stehen für „Orte, die man unbedingt besucht haben sollte“, um mitreden zu können.
Was ist also meine Hitliste dieser allgemein überschätzten Reiseziele? Welche besseren Alternativen habe ich dazu anzubieten?
Diese Reiseziele kann man sich getrost sparen:
Arles
Eine Motorradtour durch Provence und Camargue gehört zu den schönsten Reiseerlebnissen in Frankreich. Dabei führt die Route meist über das Städtchen Arles. Vor allem wegen Vincent van Gogh, der hier zusammen mit seinem Malerkollegen Paul Gaugin 15 Monate in einer Wohngemeinschaft gelebt hat. An die 300 Bilder hat er damals gemalt. Spätestens im Plakatständer von IKEA stößt man auf seine „Caféterrasse am Abend“.
Ist aber Arles deshalb schon einen Abstecher wert? Ich meine nein. Denn nichts ist dort übrig von van Gogh. Nicht einmal sein Gelbes Haus an der Place Lamartine. Das haben die Engländer im Krieg weggebombt. 1000 Years of Annoying the French. Außerdem hängt auch keines seiner Bilder dauerhaft in der Stadt. Darüber hinaus vermittelt Arles den Eindruck, als habe man den Charme der banlieue erfolgreich in das Zentrum integriert.
Alternativziele:
Nîmes und die Alpillen
Lieber in Nîmes Station machen. Denn die alte Römerstadt ist viel schöner. Dazu noch eine kurvige Bergtour durch die Alpilles nach Baux-de-Provence. Dabei kommt für die Tour wesentlich mehr rum.
Biarritz
Biarritz darf nicht fehlen, wenn es um überschätzte Reiseziele geht. Denn der mondäne Badeort von einst ist heute eher langweilig und vor allem überteuert. Zudem ist der Strand nur umständlich zu erreichen. Und der stundenlange Tidenhub setzt oft bösartigerweise gerade dann ein, wenn man gerne ins Wasser möchte.
Alternativziel:
St-Jean-de-Luz
Verglichen damit bietet der Badeort St-Jean-de-Luz 20 km weiter südlich einen tollen Badestrand. Außerdem eignet sich der Ort ideal als Ausgangspunkt in das Kurvenparadies der Pyrenäen.
Carcassonne
Im 13. Jahrhundert war der gewaltige Burgkomplex von Carcassonne Hauptstützpunkt der Katharer. Als Folge kontinuierlicher Restaurierung sieht er heute aus wie ein mittelalterliches Disneyland. Natürlich mit Touristenscharen und allem, was den Freund eines ungestörten Besuchs nervt. Die Unterstadt ist nichtssagend. Deshalb reicht es eigentlich, sich das Panorama der Befestigungsanlage von der vorbeiführenden D 6161 aus anzuschauen. Lange Geradeausstrecken sind in dieser Gegend garantiert.
Alternativziele:
Kulmbach – Kronach – Coburg – Thüringer Wald
Für überschätzte Reiseziele braucht man nicht extra viel Geld auszugeben. Denn tolle Alternativziele gibt es auch im eigenen Land. Wer die eindrucksvollsten Renaissancefestungen Europas besichtigen will, findet sie auf einer Strecke von 50 km in Kulmbach (Plassenburg), Kronach (Feste Rosenberg) und Coburg. Dazu hinten dran den Frankenwald und den Thüringer Wald mit herrlichen Kurvenstrecken. Samt einer appetitanregenden Gastronomie zu leistbaren Preisen.
Cinque Terre
Leider sind die „Fünf Ortschaften“ an der ligurischen Küste zwischen Genua und La Spezia ebenso Opfer des Massentourismus geworden wie viele andere schöne Gegenden. In den einstmals verwunschenen Fischerdörfchen plärren heute Backpacker dem Besucher an jedem Aussichtspunkt ins Ohr, wie gorgeous das doch alles sei. Sowas brauche ich nicht extra. Ebensowenig die stolzen Preise, die man mittlerweile in der dortigen Gastronomie abdrücken muß.
Alternativziel:
Alpi Apuane (Apuanische Alpen)
Überschätzte Reiseziele an der ligurischen Küste kann man sich sparen, wenn man 40 km südwärts nach Massa /Carrara fährt. Dort quartiert man sich am besten ein einem Strandhotel ein. Dann hat man freie Fahrt in die Apuanischen Alpen.
Von Massa aus immer die SP 55 / SP 4 / SP 13 hoch. Dort warten mehr Serpentinen als Spaghetti auf einem Teller. Dazu ein famoser Blick über Berge und Meer. Weit oben, am Monte Pelato (1.330 m) und am Monte Altissimo (1.589 m) leuchten die berühmten Marmorbrüche. Hier ließ schon Michelangelo 1517 seine weißen Steinblöcke brechen, aus denen er seine berühmten Statuen schuf.
Cognac
Ein Umweg über das Landstädtchen Cognac ist selbst für einen Liebhaber gebrannter Köstlichkeiten durchaus verzichtbar. Denn der berühmte Name darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier im Grunde nichts los ist. Mehr noch, die Stadt wirkt grau in grau und die und die Preise sind überzogen. Letztlich reicht eine gute Flasche Cognac aus dem Duty Free als Erinnerung an diese Gegend.
Alternativziele:
Limoges – Parc naturel Périgord Limousin – Bordeaux
Von Westen aus Limoges kommend sollte man Cognac aussparen und durch den herrlichen Naturpark Périgord-Limousin fahren (N 21 / D 6089). Dann gleich an der Isle entlang nach Bordeaux. Da hat man beides: eine tolle Strecke und eine schöne Stadt am Meer, die etwas bietet.
Florenz – Pisa – Siena und Umgebung
Vor einer Motorradtour in diese Touristenhochburgen kann ich nur eindringlich warnen. Denn dort habt ihr halb Amerika/Asien an der Backe und in der Umgebung auch noch die Toscana-Fraktion. Da reicht vollauf eine Etappe über Land oder durch Umbrien. Kunsthistorische Highlights hingegen sollten einer Städtetour in der absoluten Nebensaison vorbehalten bleiben. Dann aber ohne Motorrad.
Alternativziel:
Lucca
Wer sich trotzdem eine nette und nicht total überlaufene toskanische Stadt anschauen möchte, sollte Lucca ins Visier nehmen. Am besten in Verbindung mit einer Tour durch die Apuanischen Alpen (siehe oben).
Marseille

Wer sich schöne Vorstellungen von Marseille bewahren möchte, kann es billiger haben und sich auf dem heimischen Sofa den Film „Borsalino“ mit Alain Delon und Jean-Paul Belmondo ansehen.
Wer unbedingt Marseille sehen will, sollte sich in den TGV setzen. Dann eine Runde durch die Altstadt bummeln und abends mit 300 km/h wieder zurück nach Paris. Aber als Ziel einer Motorradtour taugt die Hafenstadt absolut nicht: teuer, Gassengewirr, Verkehrsgewühl, Brennpunktstadt.
Alternativziel:
Seealpen
Laßt Marseille liegen, wo es ist. Dafür tummelt euch lieber auf den Paß- und Kurvenstrecken in den Seealpen. Denn das spart Zeit und Geld. Und garantiert totalen Fahrspaß.
Route 66

Der Touristenmagnet Route 66 bedient nach wie vor liebgewordene Vorstellungen von der Weite Amerikas.
Es ist mir unbegreiflich, wie die Route 66 zum Traumziel vieler Amerikafahrer werden konnte. Dabei bietet sie eigentlich nichts Besonderes. Hauptsächlich ist sie langweilig und auf den ursprünglichen Streckenabschnitten ruppelig zu fahren. Zudem tummeln sich dort jede Menge Wohnmobil- und Motorradtouristen. Warum ausgerechnet dort? Schließlich hat Amerika viel mehr zu bieten auf dem Weg von West nach Ost:
Alternativroute Nord:
San Francisco – Modesto – Yosemite Nationalpark – Nevada – Utah
Diese Strecke über die Sierra Nevada bietet herrliche Natur bis zum Abwinken. Kaum Verkehr. Amerikaerlebnis pur.
Alternativroute Süd:
Los Angeles – Flagstaff – Sidonia Scenic Byway (AZ 89A) – Coronado Trail Scenic Byway (US 191) und dann weiter durch New Mexico nach Westen
Toulouse
Wenn es um überschätzte Reiseziele geht, darf auch Toulouse nicht fehlen. Sollte tatsächlich jemand die Stadt mit dem Motorrad besuchen, heißt das eigentlich nichts anderes als: viel zu früh aus dem Kurvenparadies der Pyrenäen rausgefahren. Schade um die herrlichen Bergstrecken, denn die Stadt bietet dem Motorradtouristen so gut wie nichts Außergewöhnliches.
Alternativziel:
Werksbesichtigung bei Airbus
Wenn jemand aber schon mal in der Gegend ist, sollte er sich eine Werksbesichtigung bei Airbus nicht entgehen lassen. Höhepunkt ist die Führung durch die große Montagehalle. Dabei aber darauf achten, daß man die Tour zur Arbeitszeit unternimmt. Sonst bekommt man nicht viel mit.
Fazit
Wie ihr gemerkt haben werdet, möchte ich mit meiner Aufzählung keines der genannten Tourenziele madig machen. Vielmehr möchte ich mit einem Augenzwinkern darauf hinweisen, daß es sich in aller Regel kaum lohnt, auf einer Motorradtour Zeit und Kilometer dafür aufzuwenden. Zu sehen gibt es eigentlich immer was. Das kommt auf die eigenen Präferenzen an und auf die Vorbereitung. Denn auch für uns Motorradfahrer gilt immer noch:
Man erblickt nur, was man schon weiß und versteht.
— Johann Wolfgang von Goethe in einem Brief an Friedrich von Müller vom 24. April 1819
Aktualisiert am 19/04/2021 von Christian
Axel Müller
20. Dezember 2019 at 17:51
Lieber Christian,
wieder einmal herzlichen Dank für Ihren Beitrag. Zwar habe ich Carcassonne in guter Erinnerung, suche aber für das kommende Jahr noch eine schöne Reiseroute – allerdings mit dem Auto. Ich habe nicht das Glück einer leidenschaftlichen Sozia – wozu ich Sie beglückwünsche und – wünsche Ihnen und Ihrer Familie eine frohe Weihnacht, einen „guten Rutsch“. Mit freudiger Spannung auf die nächsten Beiträge
Axel Müller, Magdeburg
christianseebode
20. Dezember 2019 at 21:39
Lieber Axel,
viel Spaß bei der Vorbereitung der Tour nach Südfrankreich! Auch ich wünsche eine gesegnete Weihnacht und ein gutes, gesundes und erfolgreiches neues Jahr mit vielen schönen Tourenerlebnissen.
Christian Seebode, Berlin
Jürgen Enkler
2. März 2020 at 00:18
Klasse geschrieben, dankeschön!
Pisa 2018 im Hochsommer: Die Stadt ein Backofen. Dichter und ein wenig chaotischer Verkehr. Internationale Menschenmassen auf der Piazza del Duomo und im Zentrum direkt daneben. „Pisa-Poser“, welche vor den Fotoapparaten ihrer Freunde den schiefen Turm zu halten vorgeben – diese Turnübung scheint vielen wichtiger als der kulturhistorische Wert dieses einmaligen Ortes.
Aber trotz alledem: Man muss es doch einmal gesehen haben! Der Dom und auch der Turm haben etwas von erlebbarem Allgemeinwissen. Das gilt auch für Siena und Florenz.
Es gibt wirklich viele Alternativen zu diesen Touristenmagneten. Zum Beispiel San Gimignano. Diesen wundervollen Ort habe ich dagegen nur noch genossen.
christianseebode
2. März 2020 at 11:15
Lieber Jürgen,
schön, daß Du Gefallen an dem Beitrag gefunden hast. Klar, wenn Italien mit 55 Orten die meisten Stätten des UNESCO-Weltkulturerbes beherbergt, gehören Pisa, Florenz & C. einfach dazu. Für sehnsuchtsvolle Tourenplanungen empfehle ich diese Seite hier: http://www.italia.it/de/reisetipps/unesco-staetten.html Wenn Du etwas tolles abseits der Touristenrudel suchst, dann fahre am besten nach Castel del Monte in Apulien, das ich unter https://motorrad-reisejournal.de/motorradtour-nach-suditalien/ beschrieben habe. Viel Spaß und gute Fahrt in der neuen Saison!
Peter Johnen
25. November 2020 at 18:54
Yes, yes, yes und yes… Allerdings war der Sommer 2020 natürlich ein besonderer Zeitpunkt für einen Besuch in Siena und sogar Florenz… 😉 #DankeCorona
Mein Favorit für überschätzte Motorradziele: das Stilfserjoch / der Passo Stelvio! Rein fahrerisch ist er mit seinen engen Kehren vielleicht eine interessante Herausforderung, aber keinesfalls ein Vergnügen. Und wenn man den Fehler macht, an einem sonnigen Wochenendtag dorthin zu fahren, versteht man sehr schnell, was eine „kritische Masse“ bedeutet und warum Motorräder (aller Couleur), Autos (vom Smart bis zum Ferrari), Fahrräder (mit und ohne „e“) und Wohnmobile (grrmmmpffff…) nicht füreinander bestimmt sind.
Christian
25. November 2020 at 19:34
Stilfser Joch oder Sella-Runde könnten als Symbol stehen für gesellschaftliche Problembereiche der Mobilität. Habe grade beim Ausräumen alte Schwarzweiß-Bilder gefunden vom Stilfser Joch, damals noch ungeteert und grausig zu fahren (so jedenfalls mein Vater). Ja, so ändern sich die Zeiten, aber auch wir uns mit ihnen.
Viele Grüße
Christian
Sebastian
16. März 2022 at 15:33
Ich danke Ihnen für den interessanten Artikel. Es lohnt sich wirklich auch eher unbekannte Ziele anzufahren. Man kann immer etwas Spannendes entdecken. Schöne Landschaften gibt es überall.
Mit besten Grüßen
Tobias
Christian
16. März 2022 at 17:37
Gern geschehen! Da wir als Motorradfahrer das unschätzbare Privileg haben, unsere Freiheit dort zu suchen, wo sie uns heimlich wartet, sollten wir es auch weidlich nutzen. Besonders in trüben Zeiten.
Viele Grüße
Christian