Mit ausgefeilten Reisebereichten besonderer Art kann der Psychoanalytiker Sigmund Freud als der erste Reiseblogger im modernen Sinn gelten. Tolle Erlebnisse, tolle Sprache.
Überraschende Entdeckung
Die Reisen verleihen dem Geist eine sehr große Weite: Man verläßt den Kreis der Vorurteile seines eigenen Landes, ohne sich diejenigen des fremden Landes aufzubürden.
— Charles-Louis de Montesquieu, Essai sur les causes qui peuvent affecter les esprits et les caractères (1736)
Das Teuflische beim Aufräumen der häuslichen Bibliothek ist: Man macht sich entschlossen ans Abstauben und Aussortieren, bleibt jedoch irgendwann an einem bestimmten Buch hängen, das man kaum im eigenen Bestand vermutet hätte. Dann legt man wie entrückt das Staubtuch beiseite, läßt sich auf der Trittleiter nieder und beginnt im Neufund zu stöbern. Womit das Aufräum-Projekt zunächst einen edlen Tod gestorben wäre.
Jüngster Stolperstein war bei mir eine Sammlung von Reisebriefen des Wiener Psychoanalytikers Sigmund Freud: Unser Herz zeigt nach dem Süden
Reisebriefe
Reiseberichte in Briefform gibt es eigentlich schon lange. Aber zu einer eigenen Gattung sind regelmäßige Reisebriefe erst mit der Entstehung eines funktionierenden Postwesens herangereift. Schon der große Gelehrte Erasmus von Rotterdam (1466? – 1536) sendet dem englischen König Heinrich VIII. Impressionen seiner Deutschlandreise: verräucherte Gasthäuser, saufende Bauern, herumlungernde Landhuren, trocknende Socken am Kachelofen. (1)
Ein Jahrhundert später teilt der französische Philosoph Michel de Montaigne (1533 – 1592) mit seinen Bekannten das Tagebuch (2) seiner Reise nach Italien. Darin berichtet er (aus Lindau) voller Überraschung, an französischen Fürstenhöfen sei das Essen kaum besser und variantenreicher als in Deutschland. Da schau her!
Sigmund Freuds Reisen
Der Wiener Großbürger Sigmund Freud unternahm zwischen 1885 und 1923 über 20 Reisen nach Italien, auf den Balkan und nach Griechenland. Sparen brauchte er dabei nicht: Seinem sozialen Status gemäß residierte er zumeist in Top-Hotels, die auch seinerzeit nicht gerade billig waren.
Doch diesen Luxus konnte er sich mit einem komfortablen Jahreseinkommen von 25.000 Gulden locker leisten, nach heutigem Wert etwa 185.000 Euro. Für einen zweiwöchigen Italienaufenthalt reichte das Salär eines einzigen Arbeitstages aus. „Geld ist Lachgas für mich“, schreibt er einmal an einen Freund.
Sigmund Freud der erste Reiseblogger
Erstaunlich an seinen Reisen ist, auf welche modern anmutende Weise Freud seine Wiener Umwelt an seinen vielfältigen Reiseeindrücken teilhaben läßt: Jeden Tag kauft er dort, wo er sich gerade aufhält, zwei Ansichtskarten. Eine schreibt er am Vormittag, wirft sie in den Kasten, die andere gibt er am Nachmittag auf. Am nächsten Tag treffen die Bildergrüße in dieser Reihenfolge in Wien ein, eine mit der Vormittags-, die nächste mit der Nachmittagszustellung.

Durch diese Sonnenbrille sammelte Sigmund Freud seine Impressionen in Italien. Sieht auch heute noch unheimlich cool aus.
Womit sich heute ein guter Blogger im Internet präsentiert, das erledigt Freud total analog: ein aussagekräftiges Bild auf der Ansichtskarte, ein klasse Text und fortlaufend frische Erlebnisse. Google wäre wahrscheinlich entzückt gewesen von solchem quality content. Auf diese Weise waren Familie und Freunde zeitnah und kontinuierlich im Bilde, was den Herrn Doktor in Italien umtrieb.
Schreiben auf kleinstem Raum
Der heutige Leser mag überrascht sein von der Art seines Umgangs mit den Lieben zu Hause: Seine Frau Martha ist in der Anrede die „Geliebte Alte“. Auch vergißt er nie, seine 6 Kinder mit einzubeziehen: „Liebe Grüße an alle Fratzen“.
Freud ist ein begnadeter Schreiber, der seine komplexen Eindrücke auf den wenigen Quadratzentimetern einer Postkarte mit konziser Eleganz überzubringen weiß: Vom (1902) zusammengestürzten Campanile in Venedig schreibt er: „Vor uns der Trümmerhaufen des Campanile hinter Bretterzäunen. Die Kirche ist schöner denn je, wie eine junge Witwe nach dem Tod des Herrn Gemahl.“ Aus Florenz berichtet er: „Man schwimmt in Kunst u wird hochmüthig, etwas blasiert. Gestern war ein fürchterlicher Dursttag.“ Das ist Sprachkraft bis ins kleinste Detail.
Nicht umsonst ist nach ihm ein höchst angesehener Preis für wissenschaftliche Prosa benannt. Jährlich verliehen von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung für die Fähigkeit, komplizierte Sachverhalte der Wissenschaft allgemeinverständlich darzustellen.
Warum geht ein Psychater auf Reisen?
Sigmund Freud („Sigm“) wäre nicht Psychoanalytiker gewesen, hätte er nicht irgendwann begonnen, auch seine eigene Reiselust zu analysieren. Auf Reisen zu gehen ist für ihn wie wenn ein Knabe von zu Hause durchbrennt. Und noch mehr: Ein äußeres Zeichen von Freiheit, Wunscherfüllung und Heldentat. Aber auch Flucht vor dem verhaßten Wien: „Du weißt doch nicht, wie ekelhaft mir diese Stadt Wien ist“, schreibt er an einen Freund. Auf seinen Reisen holt sich der Psychoanalytiker aber auch Anregungen für seine Theorien. Einige seiner Arbeiten sind unterwegs konzipiert. Letztlich scheint auch der Erkenntnisgewinn des Reisens für ihn eine Rolle gespielt zu haben. An seine Frau schreibt er später einmal: „Die vielen schönen Sachen, die man gesehen, tragen doch einmal, man weiß nicht, welche Frucht.“
Fazit
Was nach der Lektüre von Freuds Reisepostkarten-Blog in Erinnerung bleibt, ist die schriftlich ausgeformte, tief reflektierte Darstellung der Lust am Reisen. Mehr Aufschluß darüber gäbe sicher sein Reisetagebuch, das jedoch leider verschollen ist. Dort fänden sich mit Sicherheit auch Hinweise auf die psychosexuellen Wurzeln des Reisens, über die er sich an anderer Stelle ausgelassen hat (3). Sigmund Freud, der erste Reiseblogger, hätte heutzutage mit Sicherheit stattliche Klickzahlen.
Quellen:
(1) Opus Epistolarum Des. Erasmi Roterdami, ed. P. S. Allen (1906 ff.)
(2) Journal du Voyage de Michel de Montaigne en Italie … en 1580 & 1581
(3) Und noch mehr sein Schüler Alfred von Winterstein, Zur Psychoanalyse des Reisens
Aktualisiert am 18/12/2021 von Christian