Das National Motorcycle Museum in Birmingham beherbergt den Schatz des britischen Motorradbaus von seinen Anfängen bis heute. Warum lohnt ein Besuch?
Geschätzte Lesedauer: 5 Minuten
Geheimtipp: National Motorcycle Museum
Heute schreibe ich ausnahmsweise mal nicht über eine Tour mit dem Motorrad, sondern zum Motorrad. Was unternehme ich an einem oberhäßlichen, verregneten, windigen Novemberwochenende in einer Industriestadt wie Birmingham? Sicher, kulturell ist hier viel geboten und wer sich für Industriegeschichte interessiert, wird ebenfalls bestens bedient.
Unbestreitbarer Besuchshöhepunkt für Motorradfahrer und Technikenthusiasten ist jedoch das National Motorcycle Museum. Auch wenn die West Midlands mit ihrer Metropole Birmingham nicht gerade zu den auserwählten Zielen einer England-Motorradtour zählen. Das Museum liegt im Südosten der Stadt an der M45, nahe am Flughafen und am Bahnhof Birmingham International. Somit ist es auf jede Weise gut erreichbar – als Abstecher von einer Motorradtour oder auf direktem Wege.
„National“ heißt in typisch britischem Sinne, daß hier „nur“ Motorräder aus heimischer Produktion ausgestellt sind. Wie sich bald zeigt, ist eine solche Beschränkung wegen der schier unübersehbaren Markenvielfalt dringend erforderlich. Das ist auch anderswo ähnlich. In dem unbedingt sehenswerten Nationalen Technikmuseum in Prag kann man im wesentlichen tschechische und im Polytechnischen Museum in Moskau nur russische Maschinen bestaunen.
Atemberaubende Fülle von Exponaten
Für kleines Geld bringt mich ein Taxi die kurze Strecke vom Flughafenbahnhof aus zu einem flachen Gebäude am Rande der Autobahn. Seine Architektur erinnert irgendwie an eine McDonald`s-Futterkrippe: das National Motorcycle Museum.
Kaum habe ich im Foyer die Regennässe von meinem Anorak geschüttelt, trifft mich schon beim ersten Blick in den vorderen Ausstellungsraum der Schlag. „Nein, sowas gibt’s doch nicht“, murmele ich vor mich hin. Fast stockt mir der Atem. Was mich erwartet, sind 5 riesige Hallen, eng an eng vollgepackt mit allem, was die britische Motorradindustrie seit ihren Anfängen 1898 auf die Räder gestellt hat. Alles sauber alphabetisch nach Herstellern geordnet.
Natürlich könnte man in typisch kontinentaler Weise bemäkeln, die moderne Museumsdidaktik sei an dieser Präsentation spurlos vorbeigegangen. Doch hier wird ein ganz anderes Konzept verfolgt. Das einer materiellen Dokumentation eines geschlossenen Sammlungsbereiches in Form einer alphabetisch-chronologischen Präsentation. Ähnlich wie beispielsweise in einer Bibliothek. Nur daß sich die Exponate hier nicht in Bücherregalen aneinanderreihen, sondern wie Familien dicht beieinander geparkt stehen.
Wer es zu schaffen glaubt, an einem Tag 900 klassische und moderne, museal super aufgearbeitete Motorräder samt eingehender technisch-historischer Beschreibung mit dem Anspruch auf Vollständigkeit zu betrachten, dem ist nur zu gratulieren. Weitere 60 Maschinen harren derzeit noch der Restaurierung nach dem verheerenden Museumsbrand im Jahre 2003. Eine der größten Katastrophen für alle, deren Herz für das Kraftrad und seine Technik schlägt.
Unglaubliche Markenvielfalt im National Motorcycle Museum
Etwas verwirrend ist für den Besucher nicht nur die einmalig große Zahl der ausgestellten Motorräder, sondern auch die unglaubliche Markenvielfalt der britischen Motorradgeschichte.
„Geschichte“ ist hier wohl das passende Wort, wenn man bedenkt, daß von den ehemals 170 Herstellern gerade mal zwei überlebt haben. Triumph im nahen Hinckley und 8 Meilen weiter südlich an der M42 das neue Werk (voll betriebsfähig Anfang 2022) der reanimierten Norton in Solihull. Aber auch für diese beiden Überlebenden wird es zunehmend schwieriger: Triumph verlegt die Produktion seiner Volumenmodelle nach Thailand und Norton steckt in einem Insolvenzverfahren samt Zwangsverwaltung durch eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft.
Was geblieben ist, sind mehr oder weniger große Namen, von denen ich einige in der anschließenden Fotostrecke zeige, von A wie Ariel über Raleigh bis Z wie Zenith. Tempi passati.
Technik und Ästhetik des Motorradbaus
Angesichts einer so dichten Konkurrenzlage versteht es sich von selbst, daß jede dieser Firmen mit Besonderheiten hinsichtlich Technik, Design und Gebrauchswert aufwarten mußte. Schließlich waren Autos für die Mehrheit der Bevölkerung unerschwinglich teuer. So wurde das Motorrad buchstäblich zum „Motor“ der Mobilisierung breiterer Bevölkerungsschichten. Arbeiter wurden dabei für ihren Weg in die Fabrik ebenso bedient wie Landbewohner für die Fahrt ins nächste Dorf oder der Herrenfahrer, der seinen Autos in der Garage eine sündteures Luxusmotorrad an die Seite stellen konnte.
Ungeachtet der jeweiligen Preislage wird aus dem Design das durchgehende Bemühen erkennbar, ein ästhetisch ansprechendes Produkt auf die Räder zu stellen. Dies wird erkennbar bei der Verspieltheit und der Liebe zum Detail an all den verchromten, vernickelten und polierten Hebelchen, Federn und Königswellen. Form follows function. Kein Detail bleibt ohne Gestaltung. Angefangen vom der fishtail-Auspuff über die Aufnahme der Kardanwelle bis zur Instrumentierung auf dem Scheinwerfergehäuse. Dadurch wird schon das reine Betrachten zur Lust. Dann stelle ich mir vor, mich in den Sattel zu begeben wie der Altbesitzer, der eine solche Maschine einst auf den schmalen country lanes bewegt hat.
Warum ich nun die britischen Motorradkollegen besser verstehe
Beim Rundgang durch die Ausstellung befinde ich mich in zahlreicher Gesellschaft älterer Herren, die beim Betrachten der Maschinen sichtlich in Jugenderinnerungen schwelgen. Der eine oder andere Krückstock zeigt auf technische Details, die selbst nach Jahrzehnten noch kundig erläutert werden.
Ein zusätzliches Flair gewinnen die Erzählungen dieser liebenswerten Vintage-Biker durch ihr „Brummie“, den Dialekt dieser Gegend, der zum Satzende hin typischerweise abfällt oder eine Oktave niedriger klingt. Besonders in das Verschlucken der Endsilben muß man sich erst einhören. Aber es klingt ebenso sympathisch wie es auch die Menschen sind, die mir hier begegnen.
Was ich neben der britischen Motorradgeschichte und –technik aus dem National Motorcycle Museum mitnehme ist ein deutlicheres Gefühl dafür, welche zentrale Rolle das Motorrad in der Geschichte der Mobilität auf der Insel spielt: Regen hin oder her, Wind und Nebel egal, rauf auf die Maschine, Bewegung zählt und die Karre muß ordentlich was hergeben. Nix von wegen Café Racer oder Sonntagsfahrer. Denn auf der Insel geht`s ums Ganze. Nur so können sich Renn-Ikonen entwickeln wie die Tourist Trophy auf der Isle of Man – mit all ihren Besonderheiten am Rande der Strecke.
Vielleicht gelingt es mir, mit den nachfolgenden Bildern dem einen oder anderen einen Besuch des National Motorcycle Museum in Birmingham schmackhaft zu machen. Ich wünsche viel Spaß!
Adresse:
Coventry Road, Bickenhill, Solihull B92 0EJ, Vereinigtes Königreich
Website:
http://www.nationalmotorcyclemuseum.co.uk/
Fotostrecke

Wie die deutschen fertigten auch die wichtigsten britischen Hersteller Motorräder für den Kriegseinsatz.

Mein absoluter Liebling: die Brough Superior SS 100. Das seinerzeit leistungsstärkste und teuerste Luxusmotorrad wurde in der Grundversion bestellt und ganz nach Kundenwunsch technisch und optisch aufgerüstet.

Technisch und optisch ein Traum: Die letzte Brough Superior SS 100 ging 2012 bei einer Versteigerung für 309.000 Euro weg.

Die Vincent Black Lightning war mit 72 PS bis in die 60er Jahre das schnellste Serienmotorrad der Welt. Diese Maschinen hatten den Ruf, die teuersten und exklusivsten Motorräder zu sein, die es zu kaufen gab.

Keine BMW- oder Zündapp-Domäne: Ein luftgekühlter Wooler Vierzylinder-Boxermotor mit Kardanantrieb von 1953. Gebaut wurden nur 5 Stück.

Immer schön auf dem Teppich bleiben. Bodenbelag in Sonderanfertigung für das National Motorcycle Museum
Aktualisiert am 27/11/2021 von Christian