Eine Motorradtour zum Königsgrab von Seddin in der einsamen Prignitz führt über versteckte Nebenstrecken, die einen Tourentag zu einem Erlebnis besonderer Art machen.
Geschätzte Lesedauer: 4 Minuten
Flucht aus der Stadt mit dem Motorrad
Wer dem städtischen Getriebe entfliehen und in ländlicher Einsamkeit auf verlassenen Sträßchen innere Ruhe finden will, dem sei diese Motorradtour in die Prignitz nachdrücklich ans Herz gelegt. Wer darüber hinaus noch sein Enduro-Geschick oder die Fahrwerkseinstellung seiner Maschine auf die Probe stellen will, den erwarten dort unbefestigte Wege, glitschige Naturgranitpflaster und sandige Randstreifen. Wer zudem noch lauschige Plätzchen und lohnende Ziele sucht, wird von einer Motorradtour zum Königsgrab von Seddin nicht enttäuscht sein.
Auf Nebenstraßen in den Nordwesten Brandenburgs
Von Berlin (oder aus jeder anderen Richtung) führt die Tour in die Prignitz, eine der am dünnsten besiedelten Regionen Deutschlands im Nordwesten Brandenburgs. Viel Landwirtschaft gibt es hier, ausgedehnte Wälder und buntscheckiges Heideland. Die Autokennzeichen aus dieser Gegend sind anderwärts weitgehend unbekannt. Mit der Zeit lernt man aber, sich die Herkunftsorte anhand der Wegweiser zusammenreimen.
Sommerzeit ist Baustellenzeit. Tückische, quälend lange Umleitungen machen so manche Tourenplanung zunichte. Um nicht gleich auf der ersten Etappe Opfer eines Ampel- oder Engführungsstaus zu werden, schleiche ich mich auf Umwegen in das nördliche Berliner Umland. Dorthin, wo Imker ihren eigenen Honig anpreisen und Hofläden allerlei Verlockendes für die heimische Küche. Und wo die Ortschaften klingen, als würde man 1.500 km weiter südlich in den Vatikan einrollen:
Auf verschlungenen Wegen
Eine weitere Spezialität dieser Region ist das, was ich nur als „Panzerstraßen“ kenne: zweispurige Betonplattenwege durch die Landschaft in ein vermeintliches Nichts. Genau das suche und finde ich heute in der einsamen, mit Alleen und ehrwürdigen Bäumen bestandenen Landschaft. Dort, wo entlang des Fahrweges Füchse mäuseln, Greifvögel jagen und Fohlen auf der Weide tollen. Wo wir allherbstlich in die Büsche tauchen, um Schlehen für Christines hausgemachtes Schlehenfeuer zu ernten. Fünf Jahre muß es ruhen, sonst dreht es nicht richtig. Meint sie. In der Ruhe liegt die Kraft.
Ein freundlicher Grußwechsel mit einem Traktorfahrer zählt hier zu den eher seltenen Begegnungen, mehr Straßenverkehr gibt es auf diesen Wegen nicht. Dann holt mich die orthopädisch bedenkliche Rüttelstrecke durch Radensleben aus meinen Tagträumen zurück in die rauhe Wirklichkeit. Vor der Dorfkirche schiebe ich die Maschine auf den Ständer und mache einen kurzen Besuch auf dem Camposanto, einem Friedhof nach italienischem Vorbild. Er erinnert ein wenig an den Campo Santo Teutonico im Vatikan; „Campo Schlampo“, wie ihn die Kleriker dort scherzhaft nennen.
Weiter geht es auf übersichtlich geraden Straßen Richtung Ruppiner See. Mit Entzücken registriere ich, daß die Forstleute einen Parkplatz an der Straße ausgeholzt haben, auf dem sich normalerweise die Rennleitung mit einem Blitzer in den Hinterhalt legt. Eine solche Entdeckung ermuntert die Drehfreude meines CP 3-Motors.
Am Ruppiner See gönne ich mir einen belebenden Schluck aus der Thermosflasche, lasse Schwäne und Kraniche über mich hinweg ziehen und bin guter Dinge – trotz der dräuenden Wolkenwand, die sich vor mir aufbaut und in die ich auf meiner weiteren Tour wohl unweigerlich hineinfahren werde.
Stoisch halte ich aber den geplanten Westkurs, quere hinter Neuruppin die Hamburger Autobahn, um dann wieder ins ländliche Idyll einzutauschen: schmale Sträßchen, kaum breiter als ein Radweg, pralle Büsche und würdige Alleen. Orientieren kann ich mich hier nur nach den weißen Wegweisern für Radler und Wanderer. Eine romantische Einsiedelei, wenn man so will.
Nachdem ich den Borker See umrundet habe, peitscht mich der Starkregen nieder. Während ich unter dem Vordach eines Vereinsheims am Sportplatz Schutz finde, laufen in Berlin die Keller voll. Wegen des Unwetters bleibt meine liebe Frau und Heute-mal-nicht-Sozia mit dem Flieger am Flughafen hängen und verpaßt dadurch ihren Anschlußflug ins regnerische England. Sch***tag, aber was will man machen?

Während ich bei Wolkenbruch im Wald Schutz suche, wartet Christine vergeblich auf den Start ihres Fliegers.
Irgendwann beschließe ich, daß der Regen aufzuhören hat und schwinge mich wieder in den nassen Sattel. In der stillen Hoffnung, meine Tour sauber eingespeichert zu haben, vertraue ich mich auf der weiteren Fahrt durch triefende Wälder und unbekannte Wüsteneien ganz meinem Navi an. Bis mir, welche Erlösung, ein Straßenschild den Weg nach Heiligengrabe weist. Dann ein Stück Bundesstraße, an Pritzwalk vorbei, und wieder ab in die ländliche Einsamkeit:
Vor allem treibt der Regen wieder sein gemeines Spiel mit mir. Wohl wissend, was noch an regenglatten Granitpflasterstraßen auf mich zukommen wird, stelle den Fahrmodus und digitale Motorsteuerung auf „Rain“. Bisher hatte ich derlei Spezialeinstellungen als reine Spielerei abgetan. Als etwas eher für Neulinge. Schließlich weiß ja der alte Fahrensmann, daß man sich bei regennasser Fahrbahn zurücknehmen muß. Das stimmt einerseits – im Normalfall. Wenn man aber die Motorsteuerung auf glitschigem Rundkopfpflaster bei ihrer zupackenden Einstellung beläßt, beginnt die Maschine achtern zu schlingern und der Puls spielt Granada.
Nach mehreren solcher Ortsdurchfahrten muß ich dem Yamaha-San eines lassen: mit dem semiaktiven Fahrwerk hat er für die Tracer 9 GT etwas sehr sehr Brauchbares konstruiert. Danke, Arigatō, ありがとう. Erfreulicher Nebeneffekt: Auch auf Sandwegen bleibt die Maschine dabei verläßlich gut beherrschbar.
Schloß Wolfshagen
Das ändert jedoch nichts daran, daß meine Tour ins märkische Tal der Könige zu einem bedrückend regentrüben Erlebnis geworden ist. Dabei versuche ich, mich mit dem Leitspruch der amerikanischen Marines über Wasser zu halten: The only easy day was yesterday. Also Messer zwischen die Zähne und durch.
Da scheint plötzlich an einer der berüchtigten Pflasterstraßen eine Fata Morgana vor mir auf: ein neubarockes Schloß, ganz in Rosa, und davor ein mit Kreide geschriebenes Schild „Kaffee und Kuchen. Herzlich willkommen.“ Das darf ja wohl nicht war sein.
Frisch geduscht betrete ich das liebevoll restaurierte Schloß Wolfshagen. Auf meine etwas unsichere Nachfrage, was es mit dem gastronomischen Angebot auf sich habe, versichert mir die diensthabende Dame freundlich: „Natürlich, Kaffee und hausgebackener Kuchen, alles da. Kommen sie nur rein.“ Vollends skurril wird die Szene, als sie den vor Nässe triefenden Motorradfahrer in einen anheimelnden Biedermeiersalon bittet. An einem zeitgenössisch gedeckten Tischen nehme ich Platz, altes Porzellan, Blick in den Lenné-Park, niemand da außer mir. Herz, was willst du mehr. Während ich behaglich meine Beine ausstrecke, saugt sich der Turkmenenteppich unter mir mit der Nässe von Helm und Klamotten voll. Aber Stil muß sein.
Das Königsgrab von Seddin
Plötzlich und unerwartet leuchtet beim letzten Schluck Kaffee blauer Himmel durch das Schloßfenster. Zwei Kilometer trennen mich noch von meinem Tourenziel, tröstlicherweise auf asphaltierten Wegen und unter freundlicherem Himmel. Am Ende erhebt sich aus dem flachen Land ein baumbestandener Hügel, 10 m hoch und 61 m im Durchmesser. Das Königsgrab von Seddin, die bedeutendste Grabanlage dieser Art im nördlichen Mitteleuropa (Lage: N 53.135 E 11.975). Zeugnis einer bronzezeitlichen Elite, die vor 2.000 Jahren von der Prignitz aus über die Flußwege mit ganz Europa Verbindungen pflegte. Die 1899 geborgenen Grabbeigaben habe ich mir bereits im Berliner Neuen Museum angesehen, besonders den sog. Berliner Goldhut.

Seddiner Schatzfund im Neuen Museum Berlin. Das meiste haben die Russen 1945 abtransportiert. Heute modern die Stücke in den Depots von Moskau und St. Petersburg.
Meine Gedanken kreisen um den Sonnenkult, der hier in der Bronzezeit verbreitet war, und um das Kalendersystem, das in das dünne Goldblech des Hutes eingepunzt ist. Man braucht also gar nicht erst zu dem Mayas nach Südamerika fahren, um rätselhafte Kalender zu entdecken. Bei uns gibt es so etwas praktisch vor der Haustür.
Da stehe ich nun alleine auf weiter Flur, halkyonische Ruhe umfängt mich, der Blick schweift über die reifen Getreidefelder und fängt sich an den beiden Lerchen, die sich von der Thermik in den Himmel heben lassen. Hier habe ich mein Ziel erreicht: Ich bin alleine und weit weit weg vom Trubel des Alltags.

Ein heraufziehendes Gewitter mahnt zum Aufbruch
Doch schon bald mahnt mich heraufziehendes Donnergrollen zum eiligen Aufbruch. Noch eine Dauerdusche brauche ich heute nicht mehr.
Heimfahrt
Dann folgt eine der nettesten Etappen meiner Tour, für die man sich bei besserem Wetter mehr Muße gönnen sollte: eine Fahrt auf Mini-Straßen über Kreuzburg – Kuhsdorf – Mesendorf – Klein Woltersdorf und Schönebeck nach Kyritz an der Knatter. Ein lustig klingender Ortsname für den, der 96 dB (A) Standgeräusch im Fahrzeugschein stehen hat.
Mittlerweile rückt die dunkle Wolkenfront in den Rückspiegeln immer näher. Höchste Zeit also für eine aktualisierte Lagebeurteilung in Bezug auf die weitere Route: Auf einem leergefegten NETTO-Parkplatz rangiere ich meine Maschine in Nord-Süd-Richtung, bocke sie auf und setze mich vor das Vorderrad. Ein peilender Blick über die Frontscheibe gen Himmel verrät mir, daß das Unwetter genau nach Osten zieht. Dorthin also, wo zu fahren ich ursprünglich geplant hatte. Neue Lage, neue Route, ab nach Süden, wo der Himmel besser aussieht. Vorher stelle ich aber noch das Fahrwerk auf den knackigen Straßenmodus zurück, denn fortan sind keine eiszeitlichen Rumpelstrecken mehr zu erwarten.
Über viele Kilometer trocknen meine klammen Klamotten in der Wirbelschleppe eines 911ers, dessen Fahrer ein flottes Vorankommen offensichtlich ebenso zu schätzen weiß wie ich. Schließlich steht man an der Autobahnauffahrt längsseits, nickt einander kameradschaftlich zu und weiter geht’s. Allmählich verliert sich die metallicdunkle Flunder in meinen Rückspiegeln und ich fliege dem samtblauen Abendhimmel entgegen Richtung Heimat. Mit dem schönen Gefühl im Herzen, auf meiner Motorradtour an das Königsgrab von Seddin sehr viel von dem erlebt zu haben, was das Reisen auf zwei Rädern interessant und erfüllend macht.
Fazit
Eine Motorradtour zum Königsgrab von Seddin in der einsamen Prignitz schenkt Fahrfreude und Ruhe, selbst bei schlechtem Wetter. Unterwegs gibt es viel Erfreuliches für Auge, Leib und Seele zu entdecken. Sollte man die Tourenstrecke wegen Schlechtwetters oder allfälliger Umleitungen kurzfristig variieren müssen, tut das dem Vergnügen keinen Abbruch. Schließlich ist diese Region voll von versteckten reizvollen Nebenstrecken.
Streckenplan
Die .gpx-Datei zum Nachfahren findest du hier.
Landkarten
ADAC-Regionalkarte Blatt 6 Berlin und Umgebung – 1:150.000
ADAC-Regionalkarte Blatt 5 Hamburg Hannover Magdeburg – 1:150.000
Informationen
Zur Vertiefung
Eggers, Hans Jürgen: Einführung in die Vorgeschichte. : R. Piper and Company, 1959.
Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg – Die Grafschaft Ruppin
Aktualisiert am 28/07/2023 von Christian
Kristof
3. August 2023 at 10:16
Vielen Dank für die Inspiration. Gespeichert für die nächste Tour 😀
Christian
3. August 2023 at 10:33
Gerne geschehen! Ich hoffe, Du hast bei der Tour besseres Wetter als ich es hatte.
Viele Grüße
Christian
Michael bergheim
3. August 2023 at 13:29
Hallo Christian,
ein sehr schöner Bericht, den ich auch perfekt nachvollziehen kann, inklusive der Wettererlebnisse. Von Norwegen kommend und auf der Suche nach einem Weg vorbei an Hamburg bin ich von von Kiel, teils an der Ostsee entlang, an die Feldberger Seenplatte gefahren. Interessante Gegend mit mehr Vergnügen auf dem Motorrad wie man so ahnt. Also: to be contuinued, some time..
Viele Grüße aus dem Süden
Michael
p.s. Dein neues Motorrad ist eine sehr interessante Wahl, gefällt.
Christian
3. August 2023 at 21:04
Hallo Michael,
Norwegen steht schon lange auf meiner Liste, aber wegen des unsicheren Wetters wird das wohl nichts mehr. Schade. Über die Feldberger Seenplatte habe ich einiges Geschrieben, vielleicht fahre ich am Samstag dorthin, wenn das Wetter besser sein soll. – Zur Tracer 9 GT habe ich gewechselt, weil mit meine FJR 1300 auf Dauer doch sehr schwer geworden ist. Die Rote ist eine echte Verführung.
Viele Grüße und gute Fahrt,
Christian