Eine Motorradtour in das Oderbruch entschleunigt. Wo sollte man in einer der schönsten Flußlandschaften Deutschlands hinfahren?
Geheimtipp Oderbruch
Wenn ich ungestört fahren möchte und dabei Einsamkeit, Idylle und herrliche Natur suche, mache ich mich zu einer Motorradtour in das Oderbruch auf, eine der schönsten deutschen Flußlandschaften. Durch seine Randlage im Osten Deutschlands zieht dieses Binnendelta zumeist nur Ausflügler aus der Region an. Im wesentlichen ist man hier unter sich.
Fahrtstrecke: 210 km — Fahrzeit netto: 4 Stunden
Die .gpx-Datei zum Nachfahren findest Du hier.
Auf einer Fläche von 60 x ca. 15 km erstreckt sich das (!) Oderbruch von Lebus im Süden bis Bad Freienwalde im Norden und von der Oder im Osten bis an die Bundesstraße 167, die parallel zu den westlich gelegenen Oderhöhen verläuft. Mit seinen zahlreichen Oderarmen, Seen und Trockengebieten ist es ein idealer Lebensraum für eine artenreiche Tierwelt.
Früher muß das Oderbruch ausgesehen haben wie der Spreewald heute: Moor, Sumpf, Eichenwälder, gestakte Kähne auf unzähligen Kanälen. Bis Friedrich II. in den Jahren 1747 – 1753 das Land durch Verlegung des Oder-Flußbetts trocken legen und urbar machen ließ. Aus Sumpfland wurde der Gemüsegarten der Mark Brandenburg. In seinem politischen Testament schreibt der Preußenkönig, hier habe er im Frieden eine Provinz erobert, die ihm keinen einzigen Soldaten gekostet habe.
Zu ihrer „Peuplierung“ wurden – mit Hilfe der preußischen Gesandtschaften – Siedler aus ganz Europa „herbeigeschafft“. Hieran erinnern französische Ortsnamen wie Beauregard, Croustillier oder Vavais, die auf Siedler aus dem französischsprachigen Schweizer Kanton Neuchâtel zurückgehen.
Hole er mir hurtige, vor allem aber ehrliche Leute. Windbeutel kann ich in meinem Dienst nicht brauchen.
— Friedrich II. in einer Kabinettsorder von 1747
In dieser Landschaft will ich mich heute umtun. Eines erscheint mir dabei paradox: Mit dem Motorrad Dampf machen und dabei entschleunigen. Klingt komisch, doch das geht. Aber wie?
Schloß Reichenow
Meine Motorradtour in das Oderbruch möchte ich keinesfalls unter Zeitdruck absolvieren. Ich möchte den frühen Start genießen und Muße haben nicht nur zum Fahren, sondern auch zum Schauen, Fotografieren und zum Gespräch mit den Menschen unterwegs.
Deshalb schlage ich mein Basislager in Reichenow auf, am Rande des Oderbruchs. Das Schloßhotel liegt inmitten eines weitläufigen Parkgeländes mit Blick auf einen See und verfügt, sehr zu meiner Freude, über ein ausgezeichnetes Restaurant.
Am Abendtisch liegt die Regionalkarte ausgebreitet vor mir, Notizbuch und Füller obenauf. Die Neugier der übrigen Gäste legt sich erst, als Havelzander und Grauburgunder eintreffen und ich meine Utensilien beiseiteschiebe.
Motorradtour in das Oderbruch
Am nächsten Morgen versetzt der Druck auf die rote Schaltwippe den Vierzylinder in erwartungsfrohe Bewegung. Mit einem sonoren „klong“ meldet das Getriebe Einsatzbereitschaft und schon rolle ich in einen naturprallen Tourentag. Unter meinen Pirelli Angel GT II knirscht der gelb gesandete Parkweg, der mich auf die gepflasterte Dorfstraße führt.
Noch steckt in den Betriebsflüssigkeiten die Kühle der Nacht. Die Federn registrieren deshalb mit orthopädischer Präzision jeden der grauroten Buckelsteine, bis mir das gelbe Ortsschild die Gnade einer erschütterungsfreien Weiterfahrt gewährt. Durch die Kronen der Alleebäume grüßt mich die Morgensonne. Nun kann ich anblasen. Mit turbinenhaftem Singen nimmt das Kraftwerk unter mir Drehzahl auf.
Spannende Kurvenstrecken darf im Oderbruch niemand erwarten. Auch keine rauschenden Bäche oder fesselnde Panoramen. Die Landschaft ist flach, melancholisch, weltentrückt. Wiesen, Felder, Baumensembles, kleine Weiler, vereinzelte Anwesen, verlassene Bahnhöfe an stillgelegten Schmalspurstrecken, kilometerweit kein Mensch. Idylle pur. Die Straße geht vor allem in eine Richtung: immer geradeaus. Tempo und Tiefenentspannung – ein eher seltenes Gefühl beim Motorradfahren.
Klosterruine Altfriedland
Schließlich nimmt mich doch noch ein Wald auf. Ein See schimmert durch die Bäume. Ich setze den Blinker links, biege nach Altfriedland hinein, ein klassisches märkisches Fischerdorf, zwischen zwei Seen gelegen. Vom früheren Zisterzienserinnenkloster ist durch die Zeitläufte nicht viel mehr übrig geblieben als die Reste des Refektoriums. Genial ist aber der Park zum Klostersee hin, bestückt mit alten Bäumen und Holzbänken, die zum Verweilen einladen. Ein Super-Picknickplatz für künftige Touren wäre damit gefunden.
Schloß Neuhardenberg
Die B 167 führt geradewegs nach Neuhardenberg hinein auf die Schinkel-Kirche zu. In ihrem Schatten stelle ich meine Maschine kurz ab und gehe die paar Schritte hinüber zum Schloß – purer preußischer Klassizismus in blendendem Weiß inmitten eines üppig grünen Landschaftsgartens, konzipiert von Hermann von Pückler-Muskau und Peter Joseph Lenné. Der letzte Prachtbau, bevor ich tiefer in das Oderbruch vordringe.
Windmühle Wilhelmsaue
Auf geraden Landstraßen cruise ich durch weite Felder nach Letschin, wo auf einem Denkmalsockel Friedrich II. die Innenstadt beherrscht, der Vater des Oderbruchs. Übrigens: „Zum Alten Fritz“ ist hier ein geläufiger Wirtshausname, oder auch die „Goldene Kartoffel“ nach der Erdfrucht, deren Anbau er befahl.
Kurz hinter dem Ort hat, hinter Baumreihen versteckt, hat die Bockwindmühle Wilhelmsaue überlebt. Die älteste im Oderbruch. Als Mitte April 1945 die Feuerwalze des Krieges über diese Gegend hereinbrach, mußte die Mühle zwei Granatdurchschüsse kassieren. Zum Glück versagten die Zünder, aber die Löcher blieben noch lange Zeit. In der Ebene des Landes verströmt sie ein holländisches Flair. Kanäle gibt es auch, nur das Meer fehlt.
Schloss Gusow
Weiter auf der B 167 gen Süden. Flottes Marschtempo ist angesagt. Normalerweise lege ich, wenn ich hier durchkomme, einen kurzen Stop am Wasserschloß Gusow ein. Sein bemitleidenswerter Zustand rührt mich irgendwie an, ebenso der heruntergekommene Park auf der Rückseite. Man ahnt förmlich die Spinnweben in diesem Märchenschloß.
Seelow
Seelow wäre der nächste Ort, um anzuhalten oder zumindest im Besichtigungstempo zu durchfahren. Die meisten Besucher zieht es zur sowjetischen Gedenkstätte. An diesem wunderbar friedlichen Tag will ich aber vom Krieg nichts wissen und Denkmäler dieser Art habe ich in Rußland zuhauf gesehen und besucht.
Stattdessen fahre ich lieber beim Schweizerhaus vorbei, einem 1854 errichteten Ausflugslokal und späteren Mustergut. Dankenswerterweise konnte es erhalten werden, wartet aber, wie so manches hier in der Gegend, auf bessere Zeiten.
Lebus
Die B 167 führt mich nach Lebus an der Oder. Über holperigen Beton taste ich mich hinunter bis zum Ufer, wo sich der Charme dieser Flußlandschaft voll entfaltet. Kaum zu glauben, daß dieser Ort mit seiner unscheinbaren Kirche früher einmal ein veritables Bistum war.
Friedlich und kraftvoll strömt die Oder an mir vorbei, Bojen in ihrer Mitte, aber kein Schiff weit und breit. Weiße Wolken spiegeln sich im glatten Wasser. Schwerelos kreist ein roter Milan über dem Fluß, mal nach Polen hinein, mal nach Brandenburg zurück, dessen Wappentier er ist. „Roter Adler“ heißt er im Volksmund wegen seines rotbraunen Gefieders.
Fort Gorgast
Auf der B 112 geht es weiter flott nordwärts bis Gorgast. Das dortige Fort, nach dem 70er Krieg als Außenwerk der Festung Küstrin gebaut, hat die Zeitläufte überstanden und diente bis zum Ende der DDR als Munitionsdepot. Das ist aber nicht mein Ziel, sondern der Fischereibetrieb Engel nebenan. Eingeschweißter Räucherfisch, frisch, hier aus der Gegend, zum Mitnehmen.
Hafen Kienitz
Meine Motorradtour in das Oderbruch führt mich abermals über Letschin zu einem Abstecher nach Kienitz an die Oder. „Straße der Befreiung“ heißt die Trasse dorthin, wohl als Erinnerung daran, daß dies der erste Ort westlich der Oder war, den die Rote Armee besetzte. Der ortsübliche „Erste Panzer“ steht nach russischer Manier auch da. Mein Weg führt mich aber zur Alten Hafenmühle, in der zweckmäßigerweise jetzt ein Café untergebracht ist.
Jüdischer Friedhof Groß Neuendorf
Wenige Kilometer oderabwärts suche ich etwas außerhalb von Groß Neuendorf nach einem alten jüdischen Friedhof. Von einer Feldsteinmauer umgeben liegt er in einem Wäldchen versteckt, ist aber dank verläßlicher Ausschilderung gut auffindbar. Schön, daß er nach langen Jahren der Verwahrlosung wieder würdig hergerichtet wurde. Zum Gedenken lege ich einen Stein auf einen der Grabsteine.
Lieber Blumen im Leben und Steine aufs Grab als Steine im Leben und Blumen aufs Grab.
— Jüdisches Sprichwort
Ich hätte nicht gedacht, eine solche religiöse Stätte gerade in dieser Einsamkeit anzutreffen. Sie hat teilweise Zerstörung und Verwahrlosung überstanden und wurde 1992/94 liebevoll wieder hergerichtet.
Oderbrücke Bienenwerder
Bei der Weiterfahrt verzichte ich diesmal auf meine Schleichwege durch die Bruchdörfer. Heute ist mir nicht nach LPG-Plattenwegen, die zwar landschaftlich reizvoll, aber elend holperig sind und viel Zeit kosten. Stattdessen gondele ich die L 33 entlang an Beauregard vorbei durch Altreetz, Neurüdnitz und Bienenwerder, bis es an der Oder nicht mehr weitergeht.
Die wunderschöne Allee folgt grosso modo der stillgelegten Bahnstrecke, die zu aktiven Zeiten auf der Neurüdnitzer Oderbrücke den Strom überquerte. Nach wechselvollem Schicksal soll sie künftig wieder für den Fahrrad- und Fußgängerverkehr freigegeben werden.
Für mich ist die Brücke, die heute den Ehrentitel „Europabrücke“ trägt, immer ein willkommener Anlaufpunkt. Vielleicht wird ihre Freigabe für den kleinen Grenzverkehr das Gefühl tilgen, hier am Ende der Welt angelangt zu sein.
Tankstop in Polen
Wie üblich in dieser Gegend ist es auch bei meiner Motorradtour in das Oderbruch guter Brauch, zur Auffüllung des Spritfasses einen Abstecher über die polnische Grenze zu machen. Das Warschauer Finanzministerium verfährt eben viel gnädiger mit den finanziellen Ressourcen der Chauffeure als das unsrige. So tanke auch ich hinter Hohenwutzen meine FJR bis Oberkante Unterlippe mit preiswertem Super 95 voll. Das reicht dicke für den Rest des Tages und die morgige Anschlußtour. Dann kehre ich über die Oderbrücke zurück nach Brandenburg.
Uferimpressionen in Hohensaaten
Auf der L 283 pirsche ich mich an der Oder entlang bis hinter die Schleuse von Hohensaaten, um auf dem Deich eine verdiente Pause einzulegen. Faul auf dem Rücken liegend schweift mein Blick über Wasser, Auen und Bäume. Stilles Glück am Strom.
Aus dem Blattwerk der Bäume am jenseitigen Ufer löst unmerklich sich die Silhouette eines Fischadlers. Mit kaum merklichem Flügelschlag streicht er heran, wacht über dem Flußlauf, um plötzlich mit eingezogenen Schwingen in die Tiefe zu stürzen. Seine ausgestreckten Krallen brechen den glatten Spiegel des Flusses auf und ziehen einen Fisch aus der Tiefe hervor. Schwer arbeitet er sich wieder in die Höhe, dreht dabei seine Beute in Flugrichtung und streicht souverän zurück in seine Deckung.
The osprey sails above the sound;
The geese are gone, the gulls are flying.
Raise high the song, and cheerly wish her
Still as the bending net we sweep,
“God bless the fish hawk and the fisher.”
— Alexander Wilson, The Fisherman’s Hymn
Belvedere Neutornow
Auf der L 283/B 158 steuere ich den Aussichtspunkt in Neutornow an, der den schönsten Überblick über das Oderbruch gewährt. Orientierungspunkt ist die Dorfkirche am Oderhang, einst auf königlichem Grund für die Kolonisten des Oderbruchs gebaut. Vor der Kirche das Grab von Louis Henri Fontane, Theodors Vater, zu dem der Schriftsteller aber Zeit Lebens ein schwieriges Verhältnis hatte. Glitzernd schlängelt sich die Alte Oder vor den weiten Feldern hin, dahinter erstreckt sich nach Südosten die Weite des Oderbruchs.

So sah der preußische Hofmaler Antoine Pesne das Panorama über die Alte Oder und das Oderbruch nach einer Inspektionsreise mit Friedrich II. im Jahre 1745. │ © Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, Potsdam
Reichenow
Die sehr gut ausgebaute B 167 bringt mich in flottem Tempo nach Wriezen und von dort auf der L 33 zurück zu meinem Basislager in Reichenow. Hier endet meine Motorradtour in das Oderbruch.
Am See lasse ich mich auf einem Bänkchen nieder, die Landkarte auf den Knien, denn morgen folgt die nächste Tour in einem anderen reizvollen Teil des Landes.
Für den Hinweis auf die Verszeilen von Alexander Wilson danke ich vielmals meinem Sohn Fritz.
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Aktualisiert am 10/05/2022 von Christian
Dirk Kerws
6. Mai 2021 at 21:00
Danke für die schöne Schilderung und Aufarbeitung Ihrer Tour. Es war mir eine Freude Sie zu lesen 7nd wird von mir Teilweise demnächst nachgeahmt. Danke
Christian
6. Mai 2021 at 21:06
Gern geschehen! Ich wünsche Ihnen viel Spaß und gute Fahrt bei hoffentlich bald freundlicherem Motorradwetter.