Wer bei „Loire“ nur an Schlösser und Hausboottouren denkt, sollte einmal eine Motorradtour an die Obere Loire machen. Romantische Kurvenstrecken warten!
Wo ist die Obere Loire?
Beim Namen „Loire“ denken die meisten gleich an die vielbesuchten Schlösser in Nordwest-Frankreich oder an eine Flußfahrt mit dem Hausboot. Nur wenige kennen jedoch ihren Oberlauf in jenem Département, das ihren Namen trägt. Doch dieser südliche Abschnitt ist landschaftlich ungleich schöner und fahrerisch reizvoller als der nördliche. Wie eine Motorradtour an die Obere Loire zeigt, gibt es hier sehr interessante Motorradstrecken und Ausflugsziele zu entdecken.
Streckenverlauf der Motorradtour an die Obere Loire
Lyon – Tarare – Balbigny- Villerest – Amplepuis – Le Bois d’Oingt – Lyon. 200 km
Impressionen von der Anfahrt
Nachdem der Wetterbericht schönes Wochenendwetter verspricht, ist der sonntägliche Frühstart an die Obere Loire beschlossene Sache. Die Ausrüstung ist rasch zusammengesucht. Dann kann es locker losgehen: Da um diese Zeit die Straßen noch vereinsamt sind, verschwindet das Weichbild der Stadt schon nach einer knappen Viertelstunde im Rückspiegel.
Aber recht frisch ist es noch. Angeblich soll ja gerade das einen schönen Tag prophezeien. Mit eingeschaltetem Autopiloten rolle ich flott das Tal der Turdine hoch Richtung Roanne. Allmählich beginnen sich Eigenstabilisierung und inneres Tempogefühl einzustellen.
Hinter Tarare schlage ich einen linken Haken in die Berge, immer die Kurven hoch. Irgendwann zockelt vor mir ein alter Peugeot mit einem Bauern am Steuer. Wahrscheinlich haben ihn seine Schafe zu früher Stunde wachgeblökt. Doch er bleibt nur eine kurze Episode, denn bald verschwindet er in meinem Rückspiegel.
Reifengedanken
Meine Reifen habe ich von Schulter zu Schulter bezahlt, also fahre ich sie auch von Schulter zu Schulter ab. Nun ja, ein halber Zentimeter bleibt schon noch übrig. „Angststreifen“ nennt man das in der Heizerfraktion, der ich aber schon längst adieu gesagt habe. Aber warum müssen Motorradreifen eigentlich immer so aggressive Namen haben wie „Battleaxe“ (Bridgestone), „Power Pur“ (Michelin), „Diablo“ oder „Sport Demon“ (Pirelli)? Meiner heißt „Road Attac 2“ und kommt von Conti aus dem sonst eher drögen Hannover. Ein sehr empfehlenswerter Reifen übrigens. Grip ohne Ende, gute Rückmeldung, geht hinten schön kontrolliert weg.
Frostige Motorradtour an die Obere Loire
Auf den Bergen, bevor die Straße ins Loiretal hinabführt, bekommt mich der sommerliche Permafrost in den Griff und ich friere jämmerlich. Der Name Rukka sollte eher für Tiefkühlkost stehen als für Motorradkombis. Trotz eingeschalteter Griffheizung bleiben die Finger klamm, und das Ende Juli. Deshalb sehne ich mich – vergebens – nach einem heißen Kaffee auf einer sonnigen Restaurantterrasse.
Aber nichts dergleichen. Denn die unbelebten Ortschaften auf meiner Strecke erinnern mich an das Buch Öde Orte, das mir Christine einmal geschenkt hat. Auch das übrigens sehr empfehlenswert. Die Dörfer sind meist nach Heiligen benannt, die wahrscheinlich selbst tiefgläubige deutsche Katholiken nicht kennen: St.-Symphorien, St.-Cyr, St.-Priest, St.-Flour. Sicher alles Märtyrer, die genauso gefröstelt und genauso vergeblich nach einem Kaffee Ausschau gehalten hätten wie ich. Doch statt der erträumten Kaffeebars erspähe ich nur heruntergelassene und mit grellen Graffiti verschmierte Wellblechjaloisien. Amateurs du café, l’Italie vous attend.
Die Loire
Als ich bei Balbigny auf einer langen Geraden ins Loiretal hinunter rolle, bin mit Gott, der Welt und all diesen komischen Heiligen wieder versöhnt: Denn vor mir liegt eine traumhafte, felsengesäumte Tallandschaft, durch die die Loire träge, spiegelglatt und silberglänzend in der Morgensonne dahinzieht. Zwei Gänge runterschalten, Patroulliengeschwindigkeit und einfach genießen. Zahlreiche Picknickplätze am Ufer weisen auf intensive Zweitnutzung des Flusses durch die Bevölkerung hin. Ab und zu hocken Angler auf liedschäftigen Aluminiumsesselchen, den Blick regungslos auf die Wasseroberfläche fixiert, als wollten sie die Fische geradezu herausglotzen. Nichts für einen ichthyologischen Blindgänger wie mich, außer im Restaurant.
Château de la Roche
Wie elektrisiert greife ich in die Eisen, als mich hinter einer Kurve urplötzlich zwei Schilder „Châuteau“ und „Restaurant“ anglotzen. Und wirklich, mitten in der Loire erhebt sich das mittelalterliche Chateau de la Roche. Märchenhaft, menschenleer, von der Morgensonne beschienen. Wie eine Fata Morgana liegt zu meiner Rechten das zugehörige Restaurant mit Sonnenterrasse, einer Kaffeemaschine, einem freundlichen Kellner und dann mir selbst als einzigem Gast.
In der wärmenden Morgensonne umfassen meine klammen Finger das heiße Trinkgefäß und ich beginne darüber nachzusinnen, warum man hierzulande seinen Café au lait aus einer dickwandigen, abgeglatzten Tasse von unpassend mittlerer Größe trinkt statt aus einer Art Katzennapf, wie uns das früher immer in Reisemagazinen suggeriert wurde. Über den Geschmack will ich mich gnädigerweise nicht äußern. Aber er ging doch sehr stark in Richtung „Mona“ oder „Rondo“ – besser gesagt: „Erichs Krönung„.
Frösche
Die Speisekarte gemahnt zur Vorsicht: „Spécialité Grenouilles“, ein Froschlokal also. Wo kommen nur all die Frösche her? Wenn jeder der 65.436.552 Franzosen statistisch nur einen Frosch pro Jahr ißt und selbst wenn man Rohköstler, Zahnprothesenträger und Veganer herausrechnet, muß das ja eine irre Menge sein. Gibt es vielleicht Froschfarmen? Oder schwärmt die Pfarrjugend beiderlei Geschlechts in die Sümpfe aus, um die begehrten Ranidae zu klauben? Oder bringt man speziell abgerichtete Sammelstörche zum Einsatz, die das erledigen, so wie es auch Trüffelhunde auf dem Trockenen tun? Führt vielleicht ein Maître grenouiller dabei Aufsicht? Man verrät es uns einfach nicht. Besser so, ist doch mein Verhältnis zu Fröschen nachhaltig von „Lurchis Abenteuer“ geprägt, aus einer Zeit, in der ich noch uncoole Jugendschuhe tragen mußte.
Derart gestärkt und mit fast zenhafter innerer Ruhe gleite ich nun weiter auf der Uferstraße nordwärts und quere südlich von Roanne den Flußstaudamm, der einen herrlichen Blick auf die Loire freigibt. Über zahlreiche Heiligen- und Märtyrerdörfer geht es nordostwärts Richtung Amplepuis. Mit halbem Auge erspähe ich im Vorbeifahren eine Haushaltswäschefabrik im Stil der industriellen Revolution. Sie hat sicher schon bessere Zeiten gesehen. Vor meinem geistigen Auge sehe ich eine Werkshalle mit langen Reihen fleißiger Näherinnen. Immerhin erspähe ich einen Werksverkauf, der eine Visite lohnen könnte.
Ich setze meine Fahrt durch das romantische Flußtal in Richtung Lyon fort, bis der Kilometerzähler anfängt, schneller zu laufen. Als ich wieder zu Hause ankomme, begibt sich die Stadt ins Umland zum Mittagessen. Für mich beginnt der ruhigere Teil des Tages mit einer Tasse – Tee.
Nachtrag zur Motorradtour an die Obere Loire
Zwei Wochen später – Wetterwechsel. Nach dem Frühstück klart der Himmel auf und wir machen uns auf den Weg. Zu zweit diesmal. In umgekehrter Richtung erweist sich die Strecke als weitaus schöner. Man sollte halt den Michelin-Karten glauben und die als „landschaftlich reizvoll“ gekennzeichneten Straßen so fahren, daß der grüne Rand in Fahrtrichtung rechts liegt.
Bei Sonnenschein mäandern wir ohne Frust und Frost durch Flußtäler und über Bergeshöhen der Loire entgegen. Kaum gestört durch andere Fahrzeuge. Denn das Land liegt in tiefster Sommerruhe. Ehe wir bei Villerest den Loire-Staudamm erreichen, verschaffen wir uns vom nahegelegenen Belvedere einen Überblick über den Fluß und die weite Landschaft.
Zweiter bleibender Eindruck: hekatombenweise fette, süße Brombeeren an den Büschen am Rande des Parkplatzes. Warum sind sie alle noch da? Entweder mögen sie die Leute nicht (unverständlich in einem Feinschmeckerland) oder es kommt kaum jemand hierher (näherliegend, da das Ausflugsrestaurant zur Mittagszeit wie ausgestorben ist). Wir naschen jedenfalls ausgiebig und sammeln Beute für das abendliche Dessert.
Picknick an der Loire
Zeit, sich am Fluß entlang zu pirschen und nach einem romantischen Picknickplatz Ausschau zu halten. Der findet sich schon wenige Kilometer weiter: ein ruhiges Plätzchen im kühlen Schatten einer ausladenden Eiche, mit ungestörtem Zugang zum Wasser.
Wir breiten die mitgebrachte Decke aus.
οἱ δ‘ ἐπ‘ ὀνείαθ‘ ἑτοῖμα προκείμενα χεῖρας ἴαλλον
Und sie erhoben die Hände zum lecker bereiteten Mahle
– Homer, Odyssee VIII, 71
Dann Siesta. Kein Auto stört uns, kein künstlicher Laut, unendliche Ruhe, Wolken ziehen, wir liegen da, “heiß umschwärmt von hunderttausend kleinen Bienelein“.
Den bleigrauen Wolken entgegen
Als sich der Himmel zuzieht, nehmen wir wieder die Straße unter die Räder und fahren quer über Land nach Régny. Wieder über lauter Heiligendörfer: St.-Verand und St.-Expédit bereichern unsere hagiographische Sammlung.
Profaner Grund des Abstechers ist ein Besuch im Werksverkauf einer Fin-de-siècle-Textilfabrik, der aber nichts Brauchbares zu offerieren hat. Zurück zur Loire, noch 20 km am Fluß entlang, dann queren wir einen Bergzug und erreichen den einprägsamen Ort Tarare, ein Straßenkaff von anrührender Häßlichkeit. Dieses hat zwar die besten Zeiten hinter sich, aber immerhin einen McDonald’s. Als einzige Gäste machen wir uns mit zwei Capuccini zum konkurrenzlos günstigen Preis im Außenbereich breit, warten, bis sich unsere Hinterteile einigermaßen erholt haben.
Dann fädeln uns dann in den Rückverkehr nach Lyon ein. Wäre das Wetter lupenrein, würden wir noch eine kurvenreiche Anschlußtour durch das Beaujolais machen. Aber dreißig Kilometer vor der Stadt blockt eine bleigraue Wolkenwand unseren Weg und erfüllt wenig später unsere Befürchtungen. Eine halbe Stunde Fahrt im Platzregen mit permeablen Sommerkombis.
Wir werden klatschnaß, aber nehmen’s mit Humor und freuen uns auf das von Christine zubereitete Mahl. Odysseus läßt grüßen.
νύμφη δ‘ ἐτίθει πάρα πᾶσαν ἐδωδήν, ἔσθειν καὶ πίνειν, οἷα βροτοὶ ἄνδρες ἔδουσιν.
Ihm reichte die heilige Nymphe allerlei Speis‘ und Trank, was sterbliche Männer genießen.
— Homer, Odyssee, V, 196 f.
Weinempfehlung: Le Retour aux Source AOC
Kartenempfehlung: Michelin (gelbe Serie), Départements France Nr. 327 (Loire, Rhône)
Aktualisiert am 05/03/2021 von Christian