Vier spannende Motorradtouren von Ligurien nach Brandenburg, über einen Zeitraum von 5 Jahrzehnten verteilt
Geschätzte Lesedauer: 5 Minuten
Von Rapallo nach Bad Freienwalde
Am 16. April 1972 gönnte ich mir zum Abschluß einer phänomenalen Motorradtour von Florenz an die ligurische Küste einen Espresso im Imperiale Palace Hotel in Rapallo. Unterdessen kühlte draußen auf dem Parkplatz meine geborgte Moto Guzzi Falcone ab, mit der ich seinerzeit unterwegs war. In jenen Jahren ein heißes Gerät, mit dem vor allem die Polizei hinter Verkehrssündern her war.
Im Transatlantico (wie die Italiener solche Hotels im Ozeandampferstil nennen) streckte ich meine Beine dort aus, wo auf den Tag genau 50 Jahre vorher das demokratische Deutschland und das bolschewistische Rußland den Vertrag von Rapallo geschlossen hatten.
Unter ligurischer Frühlingssonne hatten sich die beiden Geächteten der internationalen Staatengemeinschaft Ostern 1922 daran gemacht, die Versailler Nachkriegsordnung von 1919 durch einen Überraschungscoup aufzubrechen: Mit dem Vertrag unterstützte das Deutsche Reich das bolschewistische Russland u. a. bei der Errichtung von Industrieanlagen für die Ölproduktion, um dadurch unabhängiger von westlichen Rohstoffimporten zu werden. Wie sich die Zeiten ändern!
Deutscherseits trug der Vertrag die Unterschrift von Außenminister Walther Rathenau. Als vormaliger Großindustrieller (u. a. Chef der AEG) und Organisator der deutschen Rohstoffversorgung im Ersten Weltkrieg erkannte er – trotz seiner grundsätzlichen Westorientierung – die ökonomischen Chancen, die ein Abkommen mit dem bolschewistischen Rußland boten.

Unterschriften von Reichsaußenminister Rathenau und Volkskommissar Tschitscherin unter den Vertrag von Rapallo │ Bilder: Mit freundlicher Genehmigung des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts – 1922-04-16 BILATR – SOW 8 Rapallo

Personalbogen aus der Personalakte von Walther Rathenau. Die Frage nach der Religionszugehörigkeit beantwortet er handschriftlich: „Diese Frage entspricht nicht der Verfassung“. │ Mit freundlicher Genehmigung des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts – 43_ P1_11797
Wie immer im Leben trifft man sich mindestens zweimal – wenn nicht persönlich, dann doch virtuell. So erging es mir mit Walther Rathenau über lange Jahre, von Rapallo über Berlin und die Ahnengalerie meiner Firmenchefs bis in die märkische Einsamkeit nach Bad Freienwalde. Seine Spuren mit dem Motorrad zu verfolgen, ist überaus lohnenswert.
Motorradfahren in einer anderen Zeit
Zeitmaschine an
Aus meinen Motorrad-Tourenbüchern
Was treibt einen sittsamen Austauschstudenten nur dazu, sein karges Stipendium in einem Nobelhotel an der ligurischen Küste auf den Kopf zu hauen? Das Defilé südländischer Schönheiten vielleicht? Na ja, sagen wir mal: Der historische Bezug war schon auch wichtig.
Aber was ist das schon gegen eine sonntägliche Motorradtour von Florenz herüber ans Meer nach Rapallo? Der Weg zur Garage führt erst einmal in die Bar an der Ecke zu einem obligatorischen caffè, immer nach dem Motto: Heiß wie die Hölle, schwarz wie der Teufel, rein wie ein Engel und süß wie die Liebe. Dann rauf auf das Fluchtfahrzeug und die Sonne polieren.
Dazu muß man erst einmal in Erinnerung rufen, was es vor einem halben Jahrhundert alles noch nicht gab: Espresso galt seinerzeit in Deutschland noch als exotisches Getränk. Motorrad gefahren wurde natürlich ohne Helm (Helmpflicht in D 1976, in Italien erst ab 1986); eine grüne Fliegersonnenbrille und zivile Sommerklamotten mußten genügen. Die Autobahn entlang der ligurischen Küste existierte erst in Teilstücken rund um Genua. Der Straßenverkehr beschränkte sich auf eine überschaubare Zahl von Cinquecentos und asthmatischen Lastwagen. Mit anderen Worten: Der Imaginationsraum des Motorradfahrens auf kurvigen Küstenstraßen glich weitgehend einem Pasolini-Film.
Von Florenz nach Rapallo
Mit der wärmenden Morgensonne im Rücken machte ich mich auf die Autostrada Firenze-Mare (die heutige A11), eine der ersten Autobahnen Italiens, eröffnet 1933. Mit meinem Viertakt-Eintopf lag ich aber weit hinter dem Geschwindigkeitsrekord zurück, den der Rennfahrer Tazio Nuvolari mit einem Alfa Romeo 16C Bimotore (konstruiert von Enzo Ferrari) 1935 auf dieser Strecke aufgestellt hat: 425 km/h.
So gondelte ich die 60 km immer geradeaus bis Lucca, danach verkündeten schon die Ortsschilder pure Urlaubsstimmung: Viareggio, Forte dei Marmi, Marina di Carrara. Scharen von Kirchgängern zwängten sich durch die Sonntagsmärkte und machten die Ortsdurchfahrten zur Qual.
Eine alles durchströmende Heiterkeit erfaßte mich auf meiner Lieblingsstrecke bei La Spezia: Myriaden von Kurven winden sich an der Steilküste des „Golfes der Dichter“ entlang. Dante hat sie in seiner Göttlichen Kommödie unsterblich gemacht:
Tra Lerice e Turbìa la più diserta,
la più rotta ruina è una scala,
verso di quella, agevole e aperta.Von Lerici bis nach Turbia hin
Ist selbst der schroffste Absturz eine Steige,
Bequem und frei zugänglich gegen ihn.— Dante Alighieri, Göttliche Komödie, Purgatorio III, 49–51
Der englische Poet Lord Byron („a daring swimmer“) durchschwamm von Lerici aus den Golf von La Spezia zu einem Schäferstündchen auf der anderen Seite. Sein Dichterfreund Shelley ertrank hier 1822 beim Segeln. Dessen angeschwemmte Leiche ließ Lord Byron am Strand von Forte dei Marmi verbrennen – genau dort, wo ich soeben vorbeigefahren war.
Nach vielen Jahren bleibt mir die Kurvenstrecke entlang der Cinque Terre ein Traum, den ich mir noch einmal erfüllen sollte. Mit einem abschließenden Abendessen im Konferenzhotel in Rapallo, versteht sich.
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Zeitmaschine aus
Über die Berge von Rapallo nach Verona
Zeitmaschine an – Viele Jahre später
Aus meinen Motorrad-Tourenbüchern
Mit dem melancholischen Gefühl, das glitzernde Meer im Rückspiegel entschwinden zu sehen, bin ich sicher nicht allein. Leichter erträglich wird die Heimfahrt keinesfalls, wenn die Fahreindrücke von Berg- und Küstenstraßen noch frisch sind und die lange Öde des grauen Bandes noch vor mir liegt.
Von Rapallo aus windet sich eine berauschende Kurvenstrecke (SP 32 / SP 225 / SP 586 / SS 654) hoch in die Berge Richtung Piacenza. Mal zwängt sie sich durch enge Flußtäler, dann wieder überquert sie schmale Bergkämme. Spektakuläre Ausblicke über die wilde Berglandschaft steigern noch die Lust auf die Kurven hinter der nächsten Kuppe bis hinauf zum Passo del Tornarlo (1.482 m).
Eine solche Etappe macht zwar den Abschied aus dem Land, in dem die Zitronen blüh’n nicht weniger schmerzlich. Aber sie setzt einen fortissimo-Schlußakkord, der innerlich bis zum Ende der Tour nachhallt.
Höchst willkommen ist nach der vormittäglichen Kurverei eine kulinarische Mittagspause. Es wäre einfach unverzeihlich, kurz vor Piacenza unverrichteter Dinge an der Osteria di Pescarolina (Str. Bobbiese, 130, 29100 Piacenza) vorbeizudonnern. Zumal die exquisite Regionalküche mit der bevorstehenden öden Autobahnetappe Richtung Verona versöhnt. Nach all den üppigen Köstlichkeiten läßt die Weiterfahrt das Gefühl aufkommen, das Fahrwerk ein paar Klicks nachjustieren zu müssen.
In Emilia si vive un anno in meno perché lì si mangia così bene.
In der Emilia lebt man ein Jahr weniger, weil man dort so gut ißt.
— Zuruf aus der Küche beim Abschied
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Mit dem Autoreisezug nach Hamburg
Nach all den Jahren tue ich es mir nicht mehr an, auf eigener Achse nach Berlin zurückzufahren. Zeitverbrauch, Langeweile, Reifenverschleiß und nicht zuletzt das Ausbleiben neuer Eindrücke bewegen mich dazu, die Maschine aufs Gleis zu setzen – samt meiner selbst. Dabei habe ich auch vollstes Verständnis für jeden, der für lange Transfers seine Maschine auf den Hänger lädt oder in einen Sprinter packt. Verona Porta Nuova heißt mein Ausfalltor nach Norden. Das Motorrad wird auf dem Autoreisezug nach Hamburg verzurrt, Fahrer und Sozia begeben sich in ihr reserviertes Abteil.
Bei einem (gar nicht so schlechten) Abendessen im Speisewagen rauscht die Etsch an uns vorbei. Ein Seitenblick in die Trentiner Berge weckt wehmütige Erinnerungen an Touren in viel früherer Zeit, als hier allenfalls alte Macker oder Polizisten mit dem Motorrad unterwegs waren. Auch das hat sich mittlerweile geändert. Bis auf den Macker.
Der Rückzug ins komfortable Schlafwagenabteil schenkt verdiente Entspannung nach einem aufregend schönen Kurventag. Bis irgendwann das Rollen der Räder ins nächtliche Nirwana entschwindet. Und irgendwann viel später in der Lüneburger Heide das Morgenlicht zum Frühstück lädt.
Der Güterbahnhof von Hamburg-Altona bietet sicher nicht das wohlige Ambiente, in dem man einen neuen Tag begrüßen möchte. Aber die Betriebsamkeit beim Entladen hat ihren eigenen Reiz, zumal, wenn eine geruhsame Schlußetappe an der Elbe entlang nach Berlin bevorsteht.
An der Elbe entlang von Hamburg nach Berlin
Es fühlt sich schon etwas merkwürdig an: Aus einem Motorradurlaub im Süden kehrt man schlußendlich von Norden her in die Heimat zurück. Aber das gemütliche Gondeln durch die beschauliche Elblandschaft ist genau die Art von Heimkehr, die einen wohltuenden psychischen Ausgleich schafft zum Kurventrubel der zurückliegenden Woche.
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Nach Rapallo begegnet mir (virtuell) in Berlin nochmals Walther Rathenau: Auf dem Weg zu meiner Garage komme ich an der Turbinenfabrik (jetzt Siemens Energy) vorbei, die er als AEG-Chef zum größten Industriebau des Kontinents ausgestaltet hat.

Die von Walther Rathenau ausgestaltete Turbinenhalle ist mit 123 m Länge die größte ihrer Art auf dem Kontinent.
Seit 1909 rollen aus diesem Werk monumentale Kraftwerksturbinen, die auf dem angrenzenden Kanal via Hamburg in alle Welt verschifft werden. Dieser unternehmerische Geist machte Rathenau späterhin zu einem Außenminister mit globalem Weitblick.
Zeitmaschine aus
Von Berlin nach Bad Freienwalde
Zeitmaschine an – einige Jahre später
Nach mehreren Jahren begegnet mir Walther Rathenau wieder – diesmal in einer Zeitungsmeldung. Entschlußlos rühre ich in meinem Morgentee und grübele, wohin meine Tour an diesem durchwachsenen Tag denn führen sollte. Dann lese ich, daß Rathenaus Schloßresidenz in Bad Freienwalde zum Verkauf steht, da sie nach mehreren Anläufen noch immer keinen Käufer gefunden hat. Das sollte man sich mal ansehen.
Damit ist ein Tourenziel gefunden! An der Oder begegnet mir (auch diesmal virtuell) Walther Rathenau wieder. Ein halbes Jahrhundert nachdem ich ihm auf einer herrlichen Tour in Rapallo nachgespürt habe und gut 20 Jahre, nach denen ich durch den ligurischen Apennin gekurvt bin. Durch einen herbstbunten Park leuchtet sein Schlößchen in mademoisellehaftem Altrosa. Grau geworden wie die Lackierung meines derzeitigen Motorrades ist dagegen mein Haupthaar. Geblieben ist dabei über all die Jahre meine Lust am Fahren und meine Entdeckungsfreude, die mich in diesen verschlafenen märkischen Kurort geführt hat.

Ein herrschaftliches Idyll in ruhiger Umgebung. Schloß Freienwalde war für Walther Rathenau ein ideales Domizil zum Arbeiten und zur Erholung.
In Freienwalde hatte der Preußenkönig Friedrich Wilhelm II. 1798 das frühklassizistische Schloss für seine Frau Friederike Luise erbauen lassen. 1909 kaufte es Rathenau den Hohenzollern ab. Seine Nachfahren haben es später dem jetzigen Landkreis Märkisch-Oderland geschenkt. Jetzt steht es zum Verkauf. Ein traumhafter Rückzugsort, sofern man das nötige Kleingeld dazu hat.
Herbsttour durch das Oderland
Zurück führt mich die gleiche Route wie auf dem Herweg, weil mich ihre landschaftliche Anmut gar so sehr berührt hat: Über das neu erbaute (und trotz jahrelanger Bauverzögerungen wieder kaputt gegangene) Schiffshebewerk in Niederfinow an den wellenlosen Werbellinsee und durch die Schorfheide wieder zurück nach Berlin. Eine kleine Flucht aus dem Trubel des Alltags, vollgepackt mit mehr als einem halben Jahrhundert schönster Motorrad-Reminiszenzen.
Die .gpx-Datei zum Nachfahren findest du hier.
Dennoch findet die Tour einen traurigen Abschluß: Im Grunewald halte ich an einem Gesdenkstein, der daran erinnert, daß Walther Rathenau 1922 an dieser Stelle von Extremisten erschossen wurde. Wenige Wochen, nachdem er den Vertrag von Rapallo unterzeichnet hatte. Weil er mit den Bolschewisten paktiert habe. 100 bewegte Jahre deutsche Geschichte. Für mich persönlich darüber hinaus mehr als 50 erfüllende Jahre auf zwei Rädern.
Landkarten
Touring Club Italiano, Carta Stradale e Turistica 6 – Liguria, 1:200.000
Touring Club Italiano, Carta Stradale e Turistica 7 – Toscana, 1:200.000
ADAC Regionalkarte 5, Berlin und Umgebung, 1:150.000
Informationen
Ligurien:
https://www.geo.de/reisen/reiseziele/20951-rtkl-ligurien-italien-ganz-kompakt
Emilia-Romagna:
https://emiliaromagnaturismo.it/de
Elbauen:
elbradweg.de
Brandenburg:
https://www.reiseland-brandenburg.de/
Titelbild: Midnight Bird via Wikimedia Commons
Aktualisiert am 30/10/2022 von Christian
Ludwig Biewer
6. November 2022 at 16:12
Lieber Herr Seebode, herzlich danke ich Ihnen für Ihre Betrachtungen/“Begegnungen“ zu bzw. „mit“ Walther Rathenau. Ihr Bericht hat meiner Frau ebenso gut gefallen wie mir; Sie können eben schreiben und beherrschen unsere Sprache. Bei uns beiden hat IHr Bericht einmal mehr etwas Sehnsucht nach dem Süden geweckt, die mit dem Erscheinen und dem Ausbreiten des novemberlichen Grau gewiss noch zunehmen wird. – Gibt es bei Piacenza noch etwas von dem ehemaligen Reichskloster Bobbio zu sehen, wo der mittellalterliche Universalgelehrte Gerbert von Aurrillac, 999-1003 als Silvester II. Papst, einige Jahre Abt war – wenn ich mich nicht irre. – Am kommenden Freitag werde ich Ihnen meine Erlebnisse im Zusammenhang mit Walther Rathenaus 75. Todestag erzählen,,,
Beste Grüße Ihr Ludiwg BIewer
Christian
6. November 2022 at 22:17
Lieber Herr Biewer, zuviel der Ehre! Ich mache nur in etwas anderer Form das, was ich als AFS-Azubi mitbekommen und weiterentwickelt habe. Bobbio habe ich schon früher aufgesucht, Aurillac auch (auf dem Weg von Lyon nach Rocamadour. Dazu mehr am Martinstag.
Herzliche Grüße, Ihr Christian Seebode
Ingold Serafini
16. November 2022 at 18:50
Toll wie immer Deine Tourenberichte,lieber Christian.
Langsam würde ich ein Büchlein über diese Erlebnisse schreiben,denn es wird mit Deinen Erfahrungen nie langweilig. Im Gegenteil: Oft spannender als mancher Krimi.
Weiter so!!!! Ingold u. Holger.
Christian
21. November 2022 at 18:00
Jetzt im Winter denkt man besonders gern an südliche Gefilde, in denen sich viel unternehmen und erleben läßt. Herzlichen Dank für den Kommentar und liebe Grüße, Christian