Eine herbstliche Motorradtour durch die Berge von Latium speichert unvergeßliche Erinnerungen an Kurven, Sonne und Landleben abseits des Touristentrubels.
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Saisonausklang
Vergangen ist die flirrende Hitze dieses Tourensommers. Unvergessen das herbstliche Farbenfeuerwerk der Alleen durch Uckermark und Schorfheide. Es war, als habe der Wettergott etwas gutmachen wollen nach den vergangenen Corona-Beschränkungen und vor denen, die uns der Winter sicher noch bringen wird.
Deutschland hat in diesem Jahr ein motorradtouristisches Revival erlebt. Nun aber stehen die 03/10er im Winterquartier, die Temperaturen fallen von Woche zu Woche. Schwärme schwarzer Raben krächzen jetzt schon am Nachmittag am grauen Himmel ihren Nestern entgegen. Nachsaison. Zeit, wärmende Erinnerungen aufzufrischen.
Erinnerungen aus dem Sudelbuch
Events, actions arise, that must be sung, that will sing themselves.
— Ralph Waldo Emerson, The American Scholar (1837)
Während ich bei trübem Wetter auf der Couch sitze, schweifen meine Gedanken viele Kilometer zurück. Neben einer brennenden Kerze funkelt ein Glas Rotwein von den sonnigen Westhängen der Abruzzen. Eine begnadete Gegend. Nicht nur wegen des Weins, der Walnüsse und der Oliven, mit denen sich dort gerade die Erntekörbe auf den Traktoranhängern füllen. Vor allem sind die Berge von Latium ein erlesenes Motorradrevier, das Auswärtige nur höchst selten und auch dann nur eher zufällig unter die Räder nehmen.
In meinem Notizbuch blättere ich einige der Touren nach, die ich dort unternommen habe. Sudelbuch nannte das der Schriftsteller Kurt Tucholsky. Meines ist ein Merkheft voller Aufzeichnungen, Streckenideen, Telefonnummern, Namen von Bars und Restaurants, Skizzen und vielem mehr. Mit dieser bunten Mischung ist sein Erinnerungsschatz unendlich viel reicher als ein Internettagebuch oder ein Blog, dieser hier eingeschlossen.
Beim Durchblättern halte ich unwillkürlich inne, streiche den Mittelfalz glatt und knicke links oben ein Eselsohr als Merkzeichen: „Herbstliche Motorradtour durch die Berge von Latium“ steht da. Neben den geschriebenen kommen dabei auch viele ungeschriebene Erinnerungen hoch: „Komm, laß uns für den Winter vorsorgen“, hatte meine angetraute Sozia Christine vorgeschlagen – was im Klartext soviel heißt wie: „Machen wir eine Motorradtour. Und wenn wir unterwegs was Interessantes für die Küche finden, nehmen wir es gleich mit.“ Aus der Erfahrung vergangener Hamstertouren montiere ich vorsorglich schon mal die Koffer an die Maschine.
Streckenplan
Dann breite ich auf unserem Eßtisch die Regionalkarte aus: Die Region Latium/La Regione Lazio deckt den zentralen Teil des italienischen Stiefels ab, mit der Hauptstadt Rom mittendrin. Was sie als Ziel für Motorradtouren höchst attraktiv macht, sind neben dem Küstenstreifen des Tyrrhenischen Meeres und dem Kurvenparadies der Abruzzen vor allem deren motorradtouristisch „unterbelichtete“ Vorgebirge im Südosten: die Albaner Berge, die Monti Ernici und die Monti Lepini. Auf den abgelegenen Kurvenstrecken ist man mit den Einheimischen unter sich, die arkadische Landschaft hat seit jeher die deutsche Italiensehnsucht beflügelt und zu sehen gibt es unendlich viel. Unsere Motorradtour durch die südöstlichen Berge von Latium folgt dem, was wir fahren, ansehen und besorgen wollen:
In die Albaner Berge
Von einem der sieben Hügel Roms hinab läuft sich unser treuer Boxer warm – durch den noch menschenleeren (und polizeifreien) Park Villa Borghese, am Bahnhof Termini vorbei und dann die ganze Via Appia Antica mit ihren römischen Monumenten entlang. Um diese frühe Morgenstunde ein besonderer – auch weil verkehrsfreier – Genuß.
Sobald wir den Autobahnring (Grande Raccordo Anulare – GRA) hinter uns gelassen haben, erheben sich vor uns die Monti Albani. Brav brummelt der Boxer bergan. Mein Blick kann sich dabei kaum lösen von den Rückspiegeln, in denen sich die Ewige Stadt unter seidig blauem Morgenhimmel von uns verabschiedet.
Unser erster Orientierungspunkt ist das weithin sichtbare Obervatorium der Papstresidenz in Castel Gandolfo. Eine kurze Ehrenrunde am Palazzo vorbei. Die weiß-gelbe Flagge ist aufgezogen, der Papst ist da. Linke Hand zum Gruß, dann ein beherzter Gasstoß und ab geht die Post.

Der Papst ist da: Die weiß-gelbe Flagge ist an seiner Sommerresidenz aufgezogen.
Genußvoll rollen wir an den beiden Kraterseen vorbei, dem Lago di Albano und dem Lago di Nemi. Als sich die Straße wieder talwärts windet, setze ich die Füße auf den Boden und drehe kurz dem Motor den Saft ab, um das Panorama zu genießen. 300 m unter uns zeichnet sich im zarten Herbstnebel die Küstenlinie gegen das glitzernde Meer ab, von Rom bis an den Monte Circeo.
An diesem Felsen ging der antiken Mythologie zufolge der Held Odysseus an Land und lechzte nach dem erotischen Verlangen der Zauberin Circe. Tolle Gegend. Jetzt biegen wir aber nicht direkt nach Aprilia ab (Das Städtchen hat nichts mit der Motorradmarke zu tun. Die sitzt im gleichnamigen Ort im Veneto), sondern umrunden den Vulkan noch bis Velletri.
Nüsse aus dem Nonnenkloster Velleltri
Am nördlichen Ortsrand halten wir auf das Kloster Maria Santissima delle Grazie zu. Ich ziehe beide Hebel, Christine schwingt sich aus dem Sattel und schiebt das rostige Gittertor auf, das windschief in den Angeln hängt. Auf knirschendem Kies rolle ich durch den Klosterpark und ziehe die Maschine an der blaßrosa getünchten Klostermauer auf den Ständer. Das erste Etappenziel ist erreicht.
An der Pforte erkundige ich mich bei der diensthabenden Schwester, ob wie auch dieses Jahr – gegen eine kleine Spende für die Kirche – Walnüsse im Park aufsammeln dürften. Certo, signore, non si preoccupi – nur zu!

Reiche Beute im Klostergarten
Dann picken wir unter den monumentalen Walnussbäumen unsere Ernte auf wie die Hühner die Körner auf dem Hof. Mehr und mehr füllt sich der Heckkoffer mit dem braunnarbigen Schüttgut. Zum Abschied bietet man uns in der Pilgerstube eine Erfrischung an. Ob wir wohl einen Cappuccino haben könnten, frage ich verschmitzt. Einen Cappuccino in einem Kapuzinerkloster, das muß man erst mal hinbringen.
Zaubertropfen aus dem Kloster Casamari

Kloster Casamari bei Frosinone
Mit heiteren Empfindungen verlassen wir den Ort wieder, denn vor uns liegt eine Bergtour der Sonderklasse: In kühnen Schwüngen ziehen wir hoch in das Dorf Rocca Massima – der Name ist Programm. Wir genießen den grandiosen Blick über die Pontinische Ebene, dann dringen wir weiter in das Bergland hinein bis Segni. Hier biegen wir nach Süden ab, durchqueren auf verschlungenen Sträßchen den Bergzug der Monti Lepini und machen dann einen Schlenker nach Frosinone, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz.
Am Ende eines gewundenen Provinzsträßchens erwartet uns der heimliche Höhepunkt unseres Unternehmens: das Camaldulenserkloster Casamari. Allerdings kommen wir nicht als Pilger hierher; eher schon wegen seiner reizvoll angelegten Gärten und vor allem wegen des reich bestückten Kräuter-Klostergartens. Dieser bringt seit Jahrhunderten eine Spezialität hervor, die Goccie Imperiali (Kaisertropfen).

Klosterapotheke der Abtei Casamari (FR), Italien
In der Klosterapotheke erstehen wir ein Fläschchen dieser 90%igen safrangelben Kräutertinktur, die einen Espresso mit einem wahrhaft kaiserlichen Aroma krönt. Darüber hinaus soll sie so ziemlich gegen alles helfen, was den Menschen befallen kann, von Herpes bis Zahnschmerzen, Erkältung, Reisekrankheit und Völlegefühl. Wir aber empfehlen einen (nur einen!) Tropfen in den Espresso – wunderbar.

Meine Restaurantbibel für Italientouren, auch seit ich nicht mehr mit dem LKW unterwegs bin
A propos Völlegefühl: Es ist höchste Zeit, meine liebe Sozia zu Tisch zu bitten. In einem Fernfahrerlokal bei Frosinone – touristenfrei, unschlagbare Hausmannskost, faire Preise, tolle Stimmung. Ein Erlebnis für sich.
Olivenöl aus Olevano Romano
Unsere Motorradtour durch Latium schlängelt sich weiter an den Berghängen entlang durch Weinberge und Olivenhaine. Die Leitern an den Ölbäumen sollten eine Warnung sein, daß hier Bauern bei der Ernte sind und hinter jeder der schönen Kurven ein Traktor stehen kann, auf den man nicht unbedingt draufrauschen will.
In Olevano Romano haben wir uns redlich eine Pause von der Kurverei verdient und legen an einem Frantoio an, einer Ölmühle. Schwere Graniträder walzen die tagesfrisch geernteten Oliven zu Matsch. Auf unsere Bitte hin hält der Ölmüller eine PET-Limoflasche unter den Zapfhahn. Grün wie dünne Entengrütze rinnt das frische Olivenöl in dünnem Strahl hinein. Stolz überreicht uns der Chef dann die gefüllte Flasche, nicht ohne uns eine wichtige Erinnerung mit auf den Weg zu geben: Denkt dran, bei uns ist Öl nicht nur Öl, è un condimento – ein Gewürz. Wir versprechen, sein Bioprodukt in Ehren zu halten und sorgsam zu verwenden. Dann verschwindet die Flasche neben den Goccie Imperiali im Heckkoffer, bruchsicher verstaut zwischen den Walnüssen aus dem Kloster. Bis Weihnachten werden sich die grünen Schwebeteilchen noch absetzen müssen, dann ist das Öl gebrauchsfertig für die Kombüse.

Urig: Bruschetta-Röster an der Ölmühle
Nebenan ist das Erntefest schon in vollem Gange: Wein wird getrunken (leider ohne uns), Weißbrot auf Eichenholzfeuer geröstet, kerniges Olivenöl darauf geträufelt. Wir freuen uns, in einer anderen Welt angelangt zu sein.
Im Land der Räuberbanden
Die volkstümliche Pause hat uns gut getan, denn danach geht die Kurverei auf unserer Motorradtour durch Latium weiter – aber wie! Die Drehzahlmessernadel tanzt auf und ab, als ich unserem braven Eisenroß die Sporen gebe. Ich registriere kaum das Gefühl der Rillen, Fugen und Bodenwellen. Das fein eingestellte Wilbers-Fahrwerk filtert sie alle souverän weg. Die schmale Straße bingt uns in steilen Kehren bergan, erst nach Rocca Santo Stefano, dann nach Cerreto Laziale.

Technischer Halt in den Bergen von Latium
Diese nur schwer zugänglichen Berge sind seit seit altersher eine berüchtigte Gegend. Der französische Schriftsteller Standhal berichtet (in seinen Chroniques Italiennes, Kap. I) vom Räuberhauptmann Marco Sciarra, der in den Wäldern um Cerreto Laziale nicht nur reiche Beute machte, sondern auch schöne Prinzessinen entführte. Vielleicht sollte ich auf die meinige gut aufpassen.
Kaum zu glauben, aber jetzt freuen wir uns auf eine gut ausgebaute, gerade Strecke, die uns wieder nach Hause bringt. Bei Castel Madama schlagen wir uns dann auf die A 24 Richtung Roma Centro, immer der tiefstehenden Sonne entgegen. Mit dem Feierabendverkehr lassen wir uns gemächlich Richtung Heim und Herd zurücktreiben.
Am Abend funkelt dann der Rotwein im Widerschein des Kaminfeuers. Das Eichenholz stammt aus der Gegend, die wir heute durchfahren haben. Der Rotwein auch. So schließt sich der Kreis.
Wer immer in die Gegend von Rom kommt, sollte sich unbedingt einen Tag Zeit für diese famose Motorradtour durch die Berge von Latium nehmen. Er wird es gewiß nicht bereuen.
Informationen: http://www.turislazio.it/
Unterkünfte: Am besten in einem Agriturismo auf dem Land
Weinempfehlung: Velletri Rosso DOC
Aktualisiert am 06/10/2021 von Christian