Eine frühlingshafte Motorradtour in das untere Odertal mit interessanten Zwischenzielen zum Anschauen, Nachdenken und Genießen
Geschätzte Lesedauer: 5 Minuten
Vergessenes Tabakland
Reval, Karo, Overstolz – wer hat sie noch in Erinnerung, diese Lungentorpedos aus kernigem deutschem Tabak? Pneumologische Albträume. Die Neugier trieb mich an einem sonnigen Frühlingstag auf die Piste in die Uckermark, wo der Anbau dieser Blattpflanze früher eine wichtige Rolle spielte.
Bei einer Motorradtour in das untere Odertal wollte ich einen Eindruck von dieser Tradition gewinnen. Und zugleich auskundschaften, was es sonst noch Interessantes in dieser Gegend zu sehen gibt. Zu meiner Überraschung fiel meine Ausbeute reicher aus, als ich angenommen hatte. Welche Strecke habe ich auf meiner Tour in die äußerste Nordostecke unseres Landes unter die Räder genommen? Was waren meine Erfahrungen dabei?
Streckenplanung
Wie es meiner Tourenstrategie entspricht, brach ich beizeiten auf, um zz – ziemlich zügig – auf einer möglichst reizvollen Strecke mein Zielgebiet zu erreichen: Hinaus aus der Stadt, ein Stück Autobahn nach Norden, ein Stück Schnellstraße. Und von dort aus weiter auf verkehrsarmen Bundes- und Landstraßen der unteren Oder entgegen.
Diese Strategie läßt mir genügend Zeit, um mich im Zielgebiet ausgiebig nach dem umzutun, was mich interessiert. Eine genüßliche Pause habe ich mit Landkarte und Satellitenansicht eingeplant. Das mobilisiert genügend Reserven für die Schlußetappe auf reizvollen Strecken, bei der der Fahrgenuß im Mittelpunkt steht.
Meine Tourenstrategie schenkt mir ein Fahrerlebnis, das mich möglichst rasch zum Ziel führt. Die beschaulichen Landstädtchen Liebenwalde und Angermünde passierere ich wie im Flug. Die Bundesstraßen bieten auf langen geraden Kilometern ausreichend Gelegenheit, den LKW-Verkehr Richtung polnischer Grenze hinter mir zu lassen. Viel ist ohnehin nicht los auf diesen Straßen.
Von Berlin aus nahm meine Strecke folgenden Verlauf. Du kannst sie unter https://kurv.gr/Csh8N nachfahren:
Tabak an der Oder
Nach knappen zwei Stunden flotter Fahrt unter herrlicher Frühlingssonne erreiche ich Schwedt an der Oder. Von dort aus rolle ich noch ein paar Kilometer weiter, um mir das Tabakmuseum in Vierraden anzusehen.
Alles, was mit dem Anbau des Tabaks, seiner Verarbeitung und seiner regionalen Tradition zusammenhängt, wird hier in einer liebevoll gemachten Ausstellung präsentiert. Bis auf wenige kleinere Flächen wurde der Tabakanbau jedoch mittlerweile eingestellt, da er sehr personalintensiv und damit auch sehr teuer ist.
Bei der Besichtigung kommen schöne Erinnerungen an manche Zigarre zurück, die ich mir früher bei einer genüßlichen Rauchpause auf der Tour gegönnt habe. Aber ich widerstehe tapfer der Versuchung, rückfällig zu werden.
Wie sehr der Tabakanbau auch die regionale Architektur geprägt hat, zeigen die noch vorhandenen Scheunen, in denen früher die Blätterbündel hängend an der Luft getrocknet wurden. Charakteristisch sind die zahlreichen kleinen Türen im Obergeschoß, die je nach Wetterbedingungen und Trocknungsgrad geöffnet oder geschlossen werden konnten.
Das schönste Exemplar einer solchen Takakscheune steht in Gartz (Oder) etwas weiter nördlich. Gegenwärtig wird sie mit Unterstützung der Deutschen Stiftung Denkmalschutz detailgetreu restauriert.
Als Förderer der Stiftung ist es mir ein besonderes Anliegen, mich an diesem kulturhistorischen Denkmal etwas näher umzuschauen. Jedem, der meine Strecke nachfahren möchte, kann ich nur empfehlen: ein Abstecher hierher lohnt sich unbedingt.
Um die Mittagszeit verlangt der Körper sein Recht. Zielstrebig rumpele ich über das holperige Eiszeitpflaster meinem avisierten Picknickplatz am Flußufer entgegen – und werde nicht enttäuscht. Unter einer Kastanie erwartet mich eine Bank mit Panoramablick über die ruhig dahin strömende Oder. Ich packe mein Sandwich aus und genieße meine Tour (vorübergehend) mit ausgestreckten Beinen.
Ich kann bei so gestalt’nen Sachen
Mir bei dem Tabak jederzeit
Erbauliche Gedanken machen.
Drum schmauch ich voll Zufriedenheit
Zu Land, zu Wasser und zu Haus
Mein Pfeifchen stets in Andacht aus.
— Johann Sebastian Bach, Erbauliche Gedanken eines Tabakrauchers (BWV 515)
Knast an der Oder
Zurück in Schwedt finde ich am Ortseingang ein eher beklemmendes Kapitel deutscher Geschichte vor: Informationstafeln vor einer Plattenbau-Kaserne weisen darauf hin, daß hinter dem Zaun einst die „Disziplinareinheit 2“ lag – der berüchtigte Armeeknast der DDR.
In der Zeit von 1968 bis 1990 saßen hier insgesamt an die 10.000 Militärstrafgefangene/Militärarrestanten ein. Lange hält es mich nicht hier. Ich drücke auf den Anlasser und umrunde das benachbarte Industriegebiet.
Sprit an der Oder
Neugier treibt mich an die hiesige PCK Raffinerie. Früher firmierte der größte erdölverarbeitende Betrieb der DDR als „Petrolchemisches Kombinat Schwedt“, angeschlossen an die 5.000 km lange Erdölleitung „Freundschaft“ aus Westsibirien.
Heute aber, nach der russischen Invasion der Ukraine und den verhängten Sanktionen, ist die Raffinerie ein veritabler Problemfall geworden: An ihr hängen nicht nur 3.000 Arbeitsplätze, sondern auch die Fernwärmeversorgung von Schwedt (30.000 Einwohner) und die Spritversorgung des Berliner Großraumes inklusive des Flughafens BER. Künftiges Schicksal noch ungewiß.
Aus dem Tanklager rollen rudelweise Tanklastzüge über die polnische Grenze. Jenseits der Oder locken dann riesige Hinweisschilder damit, daß man hier – anders als bei uns – viel billiger tanken kann:
Gleicher Sprit, mächtiger Preisunterschied. An der nächsten Tankstelle verproviantiere ich mich preisgünstig für die Heimfahrt. Compliments of PCK. Mit einem Gratis-Kaffee dazu.
Naturpark Unteres Odertal
Frisch und fröhlich befüllt rolle ich südwärts zum Schloß Criewen, das vor allem durch seinen von Joseph von Lenné angelegten Landschaftspark bekannt ist. Nach Anblick von Knast und Raffinerie schlendere ich ein wenig zwischen den mächtigen Bäumen an der Oder umher und besuche noch das Informationszentrum des Nationalparks Unteres Odertal, des einzigen Auen-Nationalparks in Deutschland. Schon allein wegen dieses herrlichen Naturerlebnisses lohnt es sich, hierher zu kommen.
Kurvenreiche Heimfahrt
Den fahrerisch attraktiveren Teil meiner Strecke habe ich mir für die Heimfahrt aufgehoben: Zunächst bleibt mir die B 2 nicht erspart, mit 845 km die längste Bundesstraße (die ganz früher als Reichsstraße 2 von Stettin bis zum Brenner verlief). Aber in Angermünde führt sie an einer hervorragenden Feinbäckerei vorbei, in der ich mich mit einer Beilage für die spätnachmittägliche Teestunde eindecke.
Dann folgt ein Streckenabschnitt, auf den ich mich immer ganz besonders freue. Ein gewundenes Landsträßchen von Angermünde nach Althüttendorf. Durch den Grumsin, einen uralten, als UNESCO-Welterbe geschützten Buchenwald.
Frohgemut schwinge ich durch das hellgrüne Blättermeer, das die nachmittägliche Schrägsonne mit warmen Strahlen durchscheint. Unbesucht bleibt heute die Grumsiner Brennerei in Altkünkendorf, die allerlei Spirituosen und neuerdings auch einen recht ordentlichen Single Malt aus der Destille laufen läßt.
An einem Pappschild „Frische Eier“ im nächsten Dorf werfe ich doch noch Anker. Die fetten Hühner hinter dem Gartenzaun äugen mich mißtrauisch an, als ich ihrem Meister die Euromünzen hinüberreiche. Faires Geld für einen Karton faustgroßer, frischer Eier. Garantiert öko. Ein leckeres Frühstück ist gesichert.
Wie es zu meiner Tourenroutine gehört, lege ich vor der Schlußetappe mit dem Gebäck aus der Angermünder Bäckerei noch eine kleine Entspannungspause ein und genieße die tiefe abendliche Ruhe am See.
Dann lasse ich meinen Vierzylinder wieder zu Wort kommen und ab geht’s, ohne Verkehr oder gar Rennleitung, die Kurven am Werbelliner See entlang. Bald schon schließt sich der Kreis und die Hauptstadt hat mich nach 292 Kilometern wieder. Nach einem langen Tag voller Fahrfreude und mit schönen Erlebnissen, die mich in die Ruhe der Nacht begleiten.
Aktualisiert am 06/05/2022 von Christian
Lukas Kiermeyr
5. Mai 2022 at 19:26
Christian, wie immer , spitze. Leider für mich im Süden zu weit weg für eine Spritztour. Machs gut und schicke wieder mal etwas.
Lukas
Christian
8. Mai 2022 at 11:29
Lieber Lukas, ich freue mich, daß mein Tourenvorschlag Deinen Gefallen gefunden hat. Mittlerweile bastle ich an zwei längeren Sommertouren. Die einstweilen gute Fahrt und viel Spaß,
Christian
Tabakmuseum Vierraden
11. Mai 2022 at 22:34
Lieber Christian,
Danke für dein Bericht und Besuch! Auf wiedersehen!
Team des Tabakmuseums
Christian
11. Mai 2022 at 22:40
Gerne geschehen! Ich komme wieder.
Viele Grüße
Christian
Max
21. Mai 2022 at 11:16
Hallo Christian,
vielen Dank für den Bericht! Da ich mir von dir schon ab und an einige Tourenvorschläge abgeschaut habe, würde ich gern mal etwas „zurückgeben“. Das ist hier ist bislang meine absolute Lieblingstour (nach der Streckenführung) im Berliner Umland:
https://kurv.gr/rX4gM
Wer weiß, vielleicht ist der ein oder andere Fleck ja selbst dir noch unbekannt. Besonders reizvoll empfinde ich immer den Abschnitt zwischen Oderberg und Liepe. Mit Sicherheit kein Geheimtipp, aber immer einen Abstecher wert.
Übrigens super, dass du deine Route nun auch mittels Kurviger mit uns teilst.
Schöne Grüße
Max
Christian
21. Mai 2022 at 11:45
Hallo Max,
vielen Dank für Deine nette Rückmeldung, über die ich mich sehr gefreut habe. Dank des beigefügten Touren-Links weiß ich, was ich an meinem nächsten freien Tag zu tun habe! Ich wünsche Dir noch eine schöne Saison.
Viele Grüße
Christian
Hanno Berger
11. Juni 2022 at 23:40
Ich bin Hanno aus Bremen und bin begeisterter Tourenfahrer wenn meine Selbstständigkeit mir mal Zeit dazu gibt.
Ein paar Tourenbeschreibungen von Dir habe ich schon gelesen und finde es sehr schön das sich jemand die Mühe macht so etwas zu schreiben. Vor allem der Schreibstil und die vielen eingestreuten Hintergrundinformationen finde ich sehr interessant.
Tobi
12. Juni 2022 at 13:56
sieht richtig klasse aus;)
Christian
12. Juni 2022 at 20:04
Danke! Ich hoffe, die Tour selbst gefällt Dir ebenso gut. Viele Grüße von unterwegs aus dem hohen Norden, Christian