Motorradsommer adieu: Die Nebensaison zwischen der großen Tour und den ersten Herbstregen ist ideal für den entspannten Motorradgenuß mit schönen neuen Erlebnissen.
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Tourengenuß nach der großen Tour
Motorradsommer adieu. Die große Jahrestour ist absolviert, mit bleibenden Erinnerungen an viele schöne Kilometer. Kaum ist jetzt der Normalmodus zurückgekehrt, flattern von den üblichen Verdächtigen die Saisonschluß-Sonderangebote ins Haus. Noch hoffen wir alle auf einen goldenen Motorradherbst, vor allem diejenigen, die ein Saisonkennzeichen auf den Bürzel geschraubt haben. Also nur zu, um vor (Garagen-)Toresschluß noch einen Millimeter vom Profil abzurubbeln. Motorradsommer adieu.
Motorradtouren in der Nebensaison sind für mich wie das Dessert nach dem Hauptgang. Und weil ich nicht genug davon bekommen kann, darf die Auswahl ruhig etwas reichhaltiger ausfallen. Lieblingsstrecken heraussuchen, sie mit Umwegen und Sehenswürdigkeiten anreichern, fahren, schauen, fotografieren, genießen. Das ist jetzt mein Programm zum Ende des Motorradsommers. Und wie beim Dessert üblich: Das Finale schmückt als Sahnehäubchen das Menü, am liebsten in Form einer reichen Verzierung.
Flucht aus der Stadt
Bei der alten Bundesbahn gab es vor einem halben Jahrhundert ein rabattiertes Erlebnisangebot. Di-Mi-Do hieß das, Abhauen mitten in der Woche. So soll es jetzt sein. Der Tourenspeicher des Navis ist gut bestückt, der Tank standardmäßig voll bis Oberkante Unterlippe. Das Wetter paßt.
Bis aber mein wohltönender Vierzylinder die sonnenbeschienen Landstraßen beherrschen kann, ist Geduld angesagt. Denn bei der Flucht aus dem Zentrum der Hauptstadt gibt es nicht so etwas wie einen Befreiungsschlag oder Schleichwege nach draußen. Eine halbe Stunde dichter Stadtverkehr ist die Mindeststrafe für den Ausbruch, gefolgt von einer weiteren halben Stunde offenem Vollzug auf der Schnellstraße.
Deshalb mache ich aus der Not eine Tugend, lege eine private Fahrstunde ein und repetiere all das, was mir vor langer Zeit eingetrichtert wurde: besondere Aufmerksamkeit auf die benachbarten Fahrspuren, Stop-and-go-Verkehr, achtsamer Spurwechsel, stabiles Fahren bei Kriechgeschwindigkeit. Das gibt ein gutes Gefühl mit auf den Weg. Dann endlich entläßt mich die letzte grüne Ampel auf die offene Strecke Richtung Horizont. Befreiung von der Erdenschwere, endlich.
Durch das Havelland
Als die Fahrzeuge hinter mir im Rückspiegel zu kleinen bunten Punkten geschrumpft sind, gebe ich einen entschlossenen Lenkimpuls nach links. Dann meldet mir der schrundige Straßenbelag, daß ich mein Revier erreicht habe. Wie in einen Kanal tauche ich in den mannshohen Mais links und rechts der Kreisstraße ein.
An einer unverdächtigen Straßenkreuzung biege ich abermals ab, um mich auf einer noch kleineren Landstraße wiederzufinden. Pralle Büsche säumen den Weg, über und über rot und blau gesprenkelt mit Hagebutten, Holunderbeeren und Schlehen. Null Verkehr. Hier, im Havelländischen Luch und den Belziger Landschaftswiesen, leben noch die seltenen Großtrappen. Grund genug, sich bedachtsam vorzubewegen. Mit einem Startgewicht von bis zu 16 kg gehört der „Märkische Strauß“ zu den schwersten flugfähigen Vögeln der Welt.
Wenig später verlockt mich einer dieser landwirtschaftlichen Betonplattenwege, wie man sie in Ostdeutschland häufiger findet. Ich weiß nicht, wohin er führt und wo ich schlußendlich wieder rauskomme. Irgendein Traktorist wird mir schon den Weg weisen. Zu meiner Überraschung laden mich Obstbäume am Wegrand zum Naschen ein: mattgelbe Mirabellen, rotbäckige Äpfel und fettblaue Zwetschgen. Es wäre zu schade, hier keinen außerplanmäßigen Halt einzulegen. Unvermutet hakt sich mein Navi wieder auf einer ihm bekannten Straße ein und führt mich nach Pritzerbe an der Havel.
Flußidyll
Am Ende der dörflichen Pflasterstraße wartet die Havelfähre auf mich. Mit heruntergelassener Schranke, denn der Fährmann macht gerade Mittagspause. Nach knapp hundert meist sehr flotten Kilometern schließe ich mich ihm gerne an und verzehre mein mitgebrachtes Sandwich auf einer Panoramabank am Flußufer. Himmel und Laune ungetrübt, Fahrspaß pur, was will man mehr?
Blinzelnd verfolge ich das dörfliche Treiben am Gegenufer und die Kraniche, die mit kehligen Lauten in kräftesparender Formation den Fluß entlangziehen. IFR heißt diese Navigation in der Fliegerei – I Follow River. Wer für ein friedliches Ambiente ein Motiv sucht, hier findet er es.
Das stählerne Riffeldeck teile ich mir mit einem Rudel strammer Velosenioren auf dem Weg nach Hamburg und einem verirrten Wohnmobil. Beim Bezahlen meiner 1,20 Euro für Mann und Motorrad erkundige ich mich beim Fährmann nach der Leistung seiner Schiffsmaschine. Mit meiner Schätzung liege ich voll daneben, denn es ist ein Motörchen von mageren 27 PS, das an einer armdicken Kette Fähre und Fracht von Ufer zu Ufer bewegt. Zentimeter für Zentimeter. So muß sich Ewigkeit anfühlen, denke ich mir beim Blick über die Reling: tonlos, zeitlos, raumlos. Eigentlich schön.
Als die Fährschranke sich wieder hebt, erwecke ich versonnen mit einem Druck auf den roten Knopf meinen Motor, der sechsmal soviel Leistung auf die Welle bringt wie derjenige der Fähre. Gemessen ziehe ich dann den gepflasterten Fähranleger hoch nach Kützkow.
Naturpark Westhavelland
Für meinen weiteren Weg habe ich mir einen versteckten Weg durch die weiten Havelauen ausgekundschaftet. Einen Betonplattenweg, der früher einmal zwei LPGen miteinander verband. Das Schritttempo auf dieser Holperstrecke nehme ich gerne in Kauf, um ganz intime Landschaftseindrücke zu gewinnen, die einem auf der Landstraße und zumal mit dem Auto verwehrt bleiben. Ganz allein bin ich hier auf Patrouille, allenfalls etwas Hornvieh links und rechts; ansonsten nur Wiesen und Brache.
Vor mir steigt eine Feldlerche in den Himmel, die versucht, mit ihrem zarten Kehlchen gegen meinen dröhnenden Motor anzutirilieren. Sie und ich, wir haben etwas gemeinsam – beide wollen wir am liebsten alles hinter uns lassen:
Ethereal minstrel! pilgrim of the sky!
Dost thou despise the earth where cares abound?
— William Wordsworth, To the Skylark (1798)
Noch zwei Wochen, dann wird sie in wärmere Gefilde gezogen sein. Gerne wäre ich mit ihr am Ziel. Motorradsommer, adieu.
Schloß Rogäsen
Das Szenario ändert sich kaum, als auf der Kreisstraße wieder frischer Splitt unter meinen Reifen knirscht: einsame Alleen, Felder und Wälder. Fette rote Maschinen, die auf den Wiesen das Heu zu mannshohen Rollen aufwickeln.
In Rogäsen mache ich ein schloßähnliches Herrenhaus ausfindig, das in den letzten Jahren mit Unterstützung der Deutschen Stiftung Denkmalschutz wieder in einen würdigen Zustand versetzt wurde.
Unter uralten Eichen schiebe ich meine Maschine auf den Ständer und unternehme einen Pirschgang rund um das stattliche Herrenhaus. Ein grünes Idyll mit Sichtachsen durch den Park hinaus in die weite Ebene. Hier könnte man es sich gut gehen lassen. Dies tun neuerdings vor allem jene, die in diesem umgebauten Veranstaltungshaus Feste feiern oder auch heiraten. Ansonsten scheint mir die Zweckbestimmung des Baus etwas fraglich.
Der sonnendurchflutete Park lädt geradezu ein zu einer gepflegten Kaffeepause. Zwei Straßenarbeiter, die draußen sinnlose Verkehrsschilder aufgestellt haben, schließen sich mir an. Mit dem Becher in der Hand und dem Blick aufs Schloß kann ich mir gut vorstellen, hier ein Erkerzimmer zu mieten und etwas Kreatives zu arbeiten. Nach dem Motorradsommer, versteht sich. Aber Träume sind Schäume.
Ziesar
Wenige Kilometer weiter entdecke ich das Städtchen Ziesar (gesprochen: Zi-e-sar), an dem ich schon so oft achtlos auf der Autobahn vorbeigerauscht bin. Schon eine erste Revue vermittelt interessante Eindrücke: geduckte, nett renovierte Häuser, propere Vorgärten. Highlights sind die Stadtkirche und die Bischofsburg aus dem 13. Jahrhundert. Was es hier zu sehen gibt, versöhnt mit dem gräßlichen Kopfsteinpflaster, das dem Knochengerüst arg zusetzt.
Besonders sehenswert ist die herrlich ausgemalte Burgkapelle, die die sehr nette Museumsführerin dem Interessierten gerne öffnet und erklärt.
Naturpark Hoher Fläming
Wie so oft in diesem Motorradsommer vereitelt auch hier eine weiträumige Umleitung meine geplante Weiterfahrt. Deshalb nehme ich kurz entschlossen Kurs auf Bad Belzig und Niemegk, quer durch den Naturpark Hoher Fläming. Reizvoll ist er nicht nur für Naturliebhaber, sondern auch für unsereinen wegen seiner abwechslungsreichen Motorradstrecken. Die übersichtliche Hügellandschaft lädt zum entspannten Fahren ein und wechselt sich immer wieder mit kurvigen Waldstrecken ab.
Bad Belzig, ein eher verschlafenes Kurbad, ähnelt in mancher Hinsicht dem letzten Zwischenstopp in Ziesar: schön restaurierte Häuser, Kopfsteinpflaster, historische Kirchen und vor allem eine Burg mit fettem rundem Bergfried. Kleine Schokoladenpause gefällig? Die Chocolaterie auf Burg Eisenhart (mit herrlichem Ausblick über das Land) versüßt die Weiterfahrt.
Naturpark Nuthe-Nieplitz
Nachdem ich bei Niemegk die Autobahn gekreuzt habe, führt mich die B 102 immer schön munter geradeaus. Hinter Treuenbrietzen breitet die milde Spätnachmittagssonne schon die langen Schatten der Alleebäume über die Straße. Kurz vor dem ehemaligen Kasernenkomplex Altes Lager gehe ich dann auf Nordkurs, auf den Naturpark Nuthe-Nieplitz zu. Hier begegnen mir zahlreiche Motorradkollegen, die mit mir die Vorliebe für dieses attraktive Motorradrevier teilen.
Vor Dobbrikow macht mich ein Hinweisschild stutzig. Es zeigt einen Elch mit der Unterschrift Einstandsgebiet. Sollte sich die dümmste Kreatur, die mir jemals in freier Wildbahn begegnet ist, ausgerechnet hier häuslich niedergelassen haben? Während der folgenden Kaffeepause, bei der ich meiner Thermoskanne den Rest gebe, wird mir klar: In diesem Naturpark ist es einsam und sumpfig, da könnte sich der Elch sehr wohl fühlen. Willkommen in Brandenburg!
Der letzte Schluck und der letzte Keks stimmen mich leicht melancholisch, denn nach wenigen Kilometern werde ich mich in den in den Rückflutverkehr in die Hauptstadt einfädeln. Letzte Gelegenheit, das versonnene Dahinrollen zu genießen. Schon grüßt mich von weitem der Funkturm, von dem aus ich mich durch den dicken Feierabendverkehr zur heimatlichen Garage vorarbeite. Motorradsommer adieu.
Fazit
Die Nebensaison zwischen der großen Tour und den ersten Herbstregen ist ideal für den entspannten Motorradgenuß: Die Urlauber sind von der Straße, die Temperaturen sind wieder erträglich und die Ferien-Infrastruktur noch intakt. Eine gute Gelegenheit, klassische Heimatrunden neu zu kombinieren und dabei Neues zu entdecken.
Streckenführung
Die zugehörige .gpx-Datei zum Nachfahren findest Du hier.
Aktualisiert am 23/05/2022 von Christian
Christian Walter
11. September 2021 at 23:14
Lieber Christian,
und wieder einmal bin ich erfreut, Deinen „Kanal“ abonniert zu haben. Vielen Dank für die schönen Einblicke. Diesmal allerdings kommt ein wenig Tadel von meiner Frau, die inzwischen begeistert Deine Reiseberichte liest: Grund des weiblichen Anstoßes ist, dass meine Gattin auch einfach mal Christine für Ihre Kommentare und hilfreichen Tourentips (gerade bei den älteren Beiträgen) loben möchte. Unvergessen die Rubrik „Smart Packing“ (mit unserem 12 PS Diesel-Motorrad sehr willkommen). Also: Christine, vielen Dank für Deinen Einsatz als „Wingman“ in all den Jahren!!! Bleibt dabei, berichtet weiter so toll, ich freue mich, euch abonniert zu haben.
PS; Lieber Christian (diesmal ganz kurz):
Weitermachen.
Christian
12. September 2021 at 16:31
Lieber Christian,
herzlichen Dank von uns beiden für die Blumen! Auch wenn es in manchen Beiträgen nicht offenkundig wird, aber meiner lieben Sozia verdanke ich viele Hinweise, Korrekturen und Bilder. Vor allem diejenigen, die sie aus dem Sattel während der Fahrt geschossen hat. Die Tourenlust wird uns hoffentlich nicht so bald verlassen.
Gute Fahrt und viele Grüße
Christian
Lukas Niermeyr
13. September 2021 at 20:01
Servus Christian. Einfach Danke. Ich wünsche dir noch viele unfallfreie Fahrten . Ich versuchs auch. Gruß von Lukas
Christian
15. September 2021 at 21:13
Servus Lukas, es freut mich, wieder mal von Dir zu hören. Viel Spaß und einen schönen Motorradherbst. Und viele Grüße aus den Elbauen, Christian