Mit netten menschlichen Begegnungen auf einsamen Strecken kann Motorradfahren auch zum Seelentrost werden. Wie finde ich das Glück im Einfachen?
Ich muss hier raus!
Wahrscheinlich geht es mir nicht anders als Vielen in diesen Corona-Monaten: Die Beschwerlichkeiten mehren sich, ob im öffentlichen Leben oder durch die Fremdbestimmung meiner Privatsphäre. So unabweisbar und unabänderlich das auch sein mag, es verlangt einen inneren Ausgleich.
Die betrübliche Erkenntnis dabei: Aus der Realität gibt es leider kein Entrinnen. Die tröstliche Erfahrung jedoch: Es gibt kleine Fluchten, die Luft schaffen im Kopf. Und die Seelentrost spenden, jedenfalls für eine begrenzte Zeit.
Wohl dem, der ein Motorrad in der Garage stehen hat und dies nicht nur als Transportmittel oder Sportgerät nutzt, sondern auch als Werkzeug zur inneren Erbauung. Das klingt vielleicht etwas abgehoben, aber es hat eine tiefere Bewandtnis. Anders ausgedrückt: Wie hilft mir mein Motorrad, Abstand von den Beschwerlichkeiten des Alltags zu gewinnen und einen inneren Ausgleich zu finden?
Wie ich das in diesen Herbstwochen anzustellen versuche, will ich mit einigen Touren-Streiflichtern berichten.
Innere Einstimmung

Vorfreude auf die Tour
Für den echten Seelentrost mit dem Motorrad reicht es nicht, einfach nur den Helm aufsetzen, den Anlasserknopf drücken und auf die Piste abrauschen. Die Einstimmung auf eine Intensivtour verlangt mehr. Dazu rücke ich der Maschine erst einmal mit Schlauch und Wasser zu Leibe. Ganz banal, runter mit dem Schmodder der letzten Wochen, weg mit den festgeklebten Insekten. Ein gezielter Wasserstrahl erledigt das, was man in der Fliegerei preflight inspection nennt: Ich schaue mir die Gute ringsherum ganz genau an, ob von außen her alles so in Ordnung ist, wie es sein soll und stelle mir dabei vor, wie sie unter Volllast tapfer marschiert. Erste Funken der Vorfreude beginnen zu sprühen.
Aber nur innerlich, solange an der benachbarten Zapfsäule der kraftspendende Saft in das voluminöse Spritfaß schäumt. Bis Oberkante Unterlippe, genug für einen halben Tag voller Fahrfreude. Der Blick auf die aktuellen Entwicklungen am Ölmarkt stimmt mich dabei hoffnungsfroh.
Auftakt zur Tour
Die Vorfreude auf einen lupenreinen Tourentag abseits des Alltagsgetriebes gehört zu den raren Anlässen, die mich in aller Herrgottsfrühe frohgemut aus den warmen Pfühlen bringen. Jetzt alles, nur nicht hetzen: Die Ausrüstung liegt geordnet bereit, das kräftigende Frühstück will genossen sein.
Dann ein letzter Kontrollblick auf die Wettervorhersage. Bodenständig, wie ich nun mal eingestellt bin, vertraue ich am ehesten den Prognosen, die für die Landwirte bestimmt sind: Temperaturentwicklung im Zielgebiet, Niederschlagswahrscheinlichkeit, Wind, Nebel, Sonnenscheindauer. Und wenn der Wettergott nicht will, richtet’s die Kombi. Ganz egal, heute wird gefahren, weil die Seele es braucht.

Die Maschine ist fertig zur Ausfahrt
Sobald der Daumendruck auf den Anlasserknopf die Kolben in Bewegung gesetzt hat, hallt das sonore Grummeln des Vierzylinders von den kahlen Wänden der Tiefgarage wider. Ein prüfender Blick noch auf die Display-Anzeigen, dann senkt sich bedächtig die rote Nadel des Drehzahlmessers auf Normalniveau. Die Zahnräder nehmen den ersten Gang auf, der Motor lechzt nach Gas, der Tourentag kann beginnen.
Raus aus der Zivilisation
Nach vielen intensiven Arbeitsjahren habe ich kein schlechtes Gefühl dabei, endlosen Schlangen von Berufspendlern zu begegnen, während ich – im schönsten Sinne des Wortes – das Weite suche. Meine Fahrtrichtung ist weitgehend frei. Schon bald winkt mir der bronzene Bär am Stadtrand gute Fahrt zu, ehe sein Bild in Windeseile zu einem mikroskopischen Punkt im Rückspiegel zusammenschrumpft.

Rechte Pfote zum Gruß
Alles, was jetzt noch durch Helmschale und Gehörschutz dringt, ist das hohe, turbinengleiche Crescendo des Motors. Jede Bewegung des Handgelenks setzt sich mit einem robusten Stoß ins Kreuzbein fort, bis der Tempomat auf der freien Bahn die gewünschte Geschwindigkeit serviert. Wie mit einer Wischbewegung zieht mir die Landschaft entgegen. Unmerklich hat mit der Fahrtwind schon all das aus dem Kopf geblasen, was mich auf diesen Weg gebracht hat.
Noch hat die morgendliche Herbstsonne alle Mühe damit, die Nebelschwaden über den abgeernteten Feldern aufzulösen. Dann aber verleiht sie Büschen und Bäumen jenen morbiden Farbglanz, der einen frisch bewegten Septembermorgen zum besonderen Erlebnis werden läßt.
Ab in die Landschaft
Was ich an meiner Maschine von Anfang an zu schätzen weiß, ist die komfortable Behändigkeit, mit der sie mich ins Zielgebiet bringt. Für mich ist dies die schönste Art, den Horizont schnell näher rücken zu lassen. Aber schon wird es Zeit, sich zwischen zwei Lastzügen auf die rechte Fahrspur zur Autobahnausfahrt einzufädeln. Mit einem elegischen Decrescendo registriert die Kurbelwelle, daß nach ungezügelter Geradeausfahrt jetzt der ländlich-sittliche Teil der Tour beginnt. Dann entläßt mich eine herzhaft genommene Dreiviertelkurve auf die „L irgendetwas“.
Hier verschluckt mich der morgenkühle Hochwald. Auch wird es Zeit, nach einem geeigneten Rastplatz Ausschau zu halten, denn nach schneller Autobahnfahrt lege ich gerne einen Stopp ein, um hinterher mit umso mehr Genuß die Landstraße abzuarbeiten. Schon weist mir eine sonnenbestrahlte Lichtung den Ort, an dem ich die Maschine auf den Ständer schieben muß. Helm ab, Gehörschutz raus, Thermosflasche auf – tiefe Ruhe und Einsamkeit haben mich umfangen.

Einstimmung auf die Landstraßenfahrt nach der Autobahn
Als die Landschaft auflockert, gondele ich im Patrouillenmodus durch Heckenreihen und Alleen. Bis ich am Straßenrand einen kapitalen Rehbock liegen sehe. Fallwild, möglicherweise ein Wildunfall. Also die Polizei benachrichtigen. Mein Telefon findet aber kein Netz, läßt „Nur Notrufe“ zu. Leider nicht untypisch hierzulande. Unter 110 meldet sich ein sehr freundlicher Polizeibeamter in der Zentrale, der offensichtlich gleich meine Position geortet hat, und nimmt meine Meldung auf. Dann schauen wir weiter – er auf seinen Bildschirm und ich durch das Visier in die anheimelnde Herbstlandschaft.
Einsame Tourenregion
Wer hierzulande abseits der großen Straßen auf Erkundungstour gehen möchte, tut gut daran, Federung und Dämpfung etwas komfortabler einzustellen. Denn baulich gehören viele Wege mit ihrer groben Pflasterung noch zum Erbe der Kaiserzeit. Wie die nächsten Kilometer meiner Tour, die mich in immer reizvollere Gebiete führen.

Abseits der großen Straßen
Enduristen mit ihren langen Federwegen haben es hier gut. Wie weit die Zivilisation tatsächlich hinter einem liegt, beweisen die Warnschilder in dieser Gegend:

Reichhaltige Fauna in der Tourenregion
Das hält mich aber nicht davon ab, mir ein ganz besonders reizvolles Plätzchen am See für mein Picknick zu suchen. Ich kann gar nicht aufhören, mir diese idyllische Landschaft zu betrachten, die ganz mir zu gehören scheint.

Idyllische Pause am See
Dann komme ich mit einem Waldarbeiter im orangefarbenen Dress ins Gespräch, der hier Bäume markiert. Er schwärmt vom Fischreichtum des Sees und schwadroniert über die immer zahlreicher werdenden Bieber, die ihm frech seine Beute streitig machen und die Uferbäume umbeißen. Wir kennen uns nicht, sind uns aber sehr sympathisch und genießen die ungezwungene Plauderei in der milden Herbstsonne.
Begegnung an der Ampel
Was in meinem Revier als Bundesstraße firmiert, ist anderswo eine bessere Kreisstraße. Das hält die Behörden aber keineswegs davon ab, den Verkehr durch aufwändige Baustellen zu lähmen und die Menschen durch ultralange Ampel-Rotphasen zu nerven. Aber was soll’s, das läßt sich nicht ändern, ich steige ab und unterhalte mich als Halteschlangenvorletzter sehr nett mit dem LKW-Fahrer hinter mir. Warum haben diese Leute in Deutschland nur eine so prosaische Berufsbezeichnung? In Frankreich nennt man sie respektvoll chauffeurs oder routiers, in Italien sogar i signori autotrasportatori. Aber solange sie nicht dagegen rebellieren …
Heimweh
Wenn ich lange alleine, ohne meine Sozia, unterwegs bin, erfaßt mich irgendwann ein gewisses Heimweh. Weil ich aber keinesfalls meine Tour schon beenden möchte, plane ich in der dritten Ampel-Rotphase eine große Hundekurve nach Hause. Dann bitte ich per WhatsApp um Kaltstellung einer Flasche Riesling und gebe meine Vorstellungen in Bezug auf das Abendessen durch.
Vielleicht geht es mir wie den Pferden: Wenn sie den heimatlichen Stall riechen, gibt es für sie kein Halten mehr. Auch wenn der Spritvorrat so lala bis nach Hause reichen dürfte, tränke ich mein Eisenroß noch einmal. Dann genieße ich auf der Schlußetappe das Licht- und Schattenspiel der Alleebäume in der tiefstehenden Abendsonne. Nicht lange danach begegnen mir auch schon wieder die gleichen Pendlerschlangen wie am Morgen, nur in umgekehrter Richtung.
Das sprichwörtliche Grinsen von Ohr zu Ohr nach meiner Rückkehr dürfte auch meiner Sozia nicht verborgen geblieben sein. Sie weiß, wie gut mir das Motorradfahren als Seelentrost tut. Das nächste Mal fahren wir wieder gemeinsam, vielleicht schon übermorgen.
Aktualisiert am 12/05/2022 von Christian
Axel Müller
3. Oktober 2020 at 16:30
… der Beitrag spricht für eine gewisse Seelenverwandschaft. Dabei bin ich noch bei der R1100 RT geblieben, deren beide Kolben zunächst die Wärme suchen und nach dem Warmlaufen freudig und sehr zuverlässig das Abenteuer suchen. Vielen Dank wieder einmal für kluge und gute Gedanken. Axel Müller aus Magdeburg
Christian
4. Oktober 2020 at 12:34
Vielen Dank für den ermutigenden Kommentar! Einer meiner großen Fehler war sicherlich, meine R 1150 RT (das Nachfolgemodell der Ihrigen) verkauft zu haben, auf der ich sehr bequem viele schöne lange Touren absolviert habe. Viele Grüße und gute Fahrt im sonnigen Herbst. Christian Seebode
Thomas
29. März 2021 at 09:45
Hallo, das ist genau was ich fühle wenn ich mit meiner FJR 1300 unterwegs bin. Das gute Gefühl, das mir eine gut vorbereitete Maschine gibt, die Freiheit und absolute Konzentration auf das Fahren. Es ist wie ein Traum, der leider wie jeder Traum irgendwann wieder enden muss. Der Vorteil ist nur dieser Traum kann immer gezielt wiederholt werden. Wenigstens solange bis irgrng jemand auf den absurden Gedanken kommt auch das zu verbieten. Aber hier wäre meine persönliche Grenze erreicht.
Wollen wir hoffen das man uns in diesem ueberreguliertem Staat wenigstens diese kleine Freiheit lässt.
In diesem Sinne allen eine gute Fahrt. Passt auf euch auf.
Christian
29. März 2021 at 21:19
Lieber Thomas,
ich freue mich, mit meinen Überlegungen genau das getroffen zu haben, was auch Dich umtreibt. Dennoch lasse ich mir meinen Optimismus nicht nehmen – wie in den nächsten Tagen hier zu lesen sein wird.
Viele Grüße und gute Fahrt
Christian
Thomas Böhnke
30. März 2021 at 19:06
Seit meinem Unfall 2016 ist es leider vorbei mit motorradfahren aber ich vermisse es immer noch !
Christian
30. März 2021 at 21:37
Hallo Thomas,
es tut mir sehr leid, daß Dich Dein Unfall buchstäblich „aus der Bahn geworfen“ hat und ich hoffe, Du kannst mit den Folgen einigermaßen klarkommen. Weiterhin hoffe ich, daß ich es Dir mit meinen Berichten emotional nicht zu schwer mache. Wäre vielleicht eine Maschine vom Typus Yamaha Niken etwas für Dich? Ich frage deshalb, weil ich auf einer Tour durch Amerika mal zwei älteren Herren mit Motorrad begegnet bin, von denen einer (Sohn) dem Anderen (invalider Vater) eine Harley zum Trike umgebaut hat.
Auch wenn Du nicht (mehr?) aktiv dabei sein kannst, wünsche ich Dir weiterhin Spaß bei der Lektüre und alles Gute
Christian