Wie führe ich ein Motorrad-Tourenbuch, mit dem ich meine Unternehmungen jederzeit nacherleben kann?
Geschätzte Lesedauer: 5 Minuten
Planen, fahren und vergessen
Der unwirtliche Winter ist für uns Motorradfahrer die beste Zeit, um Tourenpläne für die kommende Saison auszubrüten. Im traulichen Schein von Kerzen und Computerbildschirm erwachen Wünsche und Vorstellungen. Die zusammengesuchten Informationen gewinnen allmählich Gestalt in Form von Strecken und Reisezielen. All das will festgehalten sein für die anstehenden Motorradtouren. Für die Planung, aber auch für die Erinnerung.
Wenn wir dabei auf dem Smartphone den Bilderschatz der vergangenen Tourensaison durchscrollen wird uns erneut bewußt, wie viele schöne Momente wir auf dem Motorrad erlebt haben – und leider auch wieder vergessen. Wie die Geschichte eines Museums auch immer die Geschichte seiner Verluste ist, so ist ein virtueller Tourenschatz auch immer eine Geschichte des eigenen Vergessens. Wann bin ich damals auf den Kyffhäuser hochgefahren? Wo war das verdammt noch mal mit der verstopften Benzinpumpe? Wie hieß die kurvenumschlungene Halbinsel in der Ägäis mit dem traumhaften Sonnenuntergang? Und das verrranzte Hotel? Das Schattenreich des Vergessens ist groß.
Solche Erfahrungen sind ein Grund mehr, die wirklich wichtigen Dinge für später festzuhalten. Kein Poesiealbum, wie es die Mädels in meiner Klasse hatten. Auch heißen wir nicht alle Goethe, der die Erlebnisse seiner „Italiänischen Reise“ abends seinem Sekretär druckreif in die Feder diktierte.
Was ich meine, ist vielmehr ein schlichtes Motorrad-Tourenbuch. Eine Kladde, die mich zu Hause und unterwegs begleitet. Ein Potpourri von Planungen, Erlebnissen, Erinnerungen und allerlei Wissenswertem. Im Folgenden möchte ich euch zeigen, wie ich das seit langen Motorradjahren mache.
1. Nimm dir ein Vorbild
Quelle der Inspiration zur Führung eines Motorrad-Tourenbuches waren Menschen, die jahrelang auf sich selbst gestellt unterwegs sind: Handwerksgesellen auf der Walz. Drei Jahre und einen Tag ziehen sie mit ihrem schmalen Bündel (dem „Charlottenburger“) von Ort zu Ort, um zu arbeiten und ihr handwerkliches Können zu perfektionieren. Sie gehören zu den Menschen, die sich meinen tiefen Respekt erworben haben.
Gerne erinnere ich mich daran, wenn „rechtschaffende“ Zimmerleute, Schieferdecker, Steinmetze oder Stukkateure bei mir „formell vorgesprochen“ haben, um einen amtlichen Stempel in ihr Wanderbuch zu bekommen. Dieses fette, in Leder gebundene Buch war der handfeste Nachweis ihrer Wanderschaft mit alledem, was sie unterwegs gelernt, gearbeitet und erlebt haben. Am Ende war es prall gefüllt mit Arbeitsnachweisen, Bestätigungen und allerlei begleitenden Aufzeichnungen. Für mich war es immer höchst interessant, darin zu blättern und einen Eindruck von der Erlebnisfülle ihrer Wanderjahre zu bekommen. Keiner dieser Wandergesellen hat mein Büro verlassen ohne ein blaues Lesezeichen von mir, mit Grüßen von der Europäischen Zentralbank.
2. Was steht in meinem Motorrad-Tourenbuch?
Diese Begegnungen haben mich motiviert, für meine eigenen Unternehmungen ein ähnlich gemachtes Tourentagebuch zu führen. Eine fortlaufende Stoff-, Ideen- und Erlebnissammlung für alles, was mit Motorrad und Touren zu tun hat. Samt Aufzeichnungen zu alledem, was ich unterwegs an Merk-Würdigem erlebt habe. Kein kalligraphisches Meisterwerk, – nach 300 Kilometern ist die Gashand nicht zum Schönschreiben aufgelegt – sondern ein handschriftlicher Fundus verschiedenartigster Skizzen und Notizen, die auf andere Weise wahrscheinlich untergegangen wären.
3. Nimm eine Auszeit vom digitalen Zeitalter
Es ist wirklich paradox: Je tiefer wir in der Digitalisierung stecken, je mehr wir Texte am Rechner tippen und formatieren, desto höher stapeln sich in den Buchhandlungen wunderschön gemachte Notizbücher. Und desto edler (und teurer) werden die zugehörigen Schreibgeräte. Sprechen daraus vielleicht Nostalgie oder Entschleunigungssehnsucht?
Eher weniger, zumindest, was uns Motorradfahrer betrifft. Denn für uns gibt es ganz praktische Gründe dafür, unsere Erlebnisse in einem handfesten Büchlein festzuhalten:
- Um unterwegs zu schreiben, mußt du nicht extra einen Laptop mitschleppen. Darüber hinaus bist du in freier Landschaft unabhängig von Strom und Netz.
- Ein Notizbuch ist handlich und paßt in deine Kombi oder deinen Tankrucksack. In einer Tourenpause ziehst du es einfach heraus, legst es auf deine Knie und hältst in ein paar Stichworten das Erlebte fest: Kurvenstrecken und Höhenmeter, Fahrwerkseinstellungen, lustige Klosprüche, Adressen von Zufallsbekanntschaften, ein delikates Mittagessen und ähnliches mehr.
- Kurze, prägnant formulierte Einträge, mit der Hand geschrieben, reichen als Gedächtnisstütze allemal. Außerdem prägen sie sich viel besser ein als lange Texte.
- Zusammen mit den anfänglichen Vorbereitungsnotizen für deine Tour birgt dein Motorrad-Tourenbuch ein kompaktes Erinnerungspotential, das du für spätere Ausarbeitungen (am Rechner) nutzen kannst. Solltest du dennoch während der Tour einen längeren Text verfassen wollen (oder müssen): Der nächste Computer findet sich auch in ferneren Urlaubsländern in einem Internetcafé oder einem Hotel. Oder du machst es wie ich und diktierst deinen Text in das Sprachverarbeitungsprogramm deines Smartphones.
- Erlebnisnäher als jede Internetseite wird dein Motorrad-Tourenbuch, wenn du es mit bunten Erinnerungsstücken anreicherst: Eintrittskarten, Bilder, Visitenkarten oder die Locke einer unterwegs entzündeten Flamme. Kleber dafür findest du auf jeder Post oder an der Hotelrezeption.
4. Was bringt dir dein Motorrad-Tourenbuch?
Sein Hauptnutzen besteht sicher darin, deine Erinnerungen in eine Form zu bannen, auf die du stets leichten Zugriff hast. Nach Abschluß der Tour wirst du aber sehen, wie interessant seine Nebenwirkungen sind, denn
- deine Perspektive ändert sich: Mit der Zeit wirst du die Dinge anders wahrnehmen als während der Tour. Wenn du später einmal deine Aufzeichnungen durchblätterst, wird dir Manches wichtiger erscheinen als vorher, Anderes wird dahinter zurücktreten. Dieser zeitliche Abgleich verhilft dir zu einer aufschlußreichen Neubewertung deiner Tour.
- wahrscheinlich fotografierst du viel auf deiner Tour. Mit der Digitalkamera (und dem Smartphone) erinnern dich zwar die EXIF-Daten daran, wann und wo du dieses oder jenes Bild geschossen hast. Aber Leben gewinnen deine Bilder erst dann, wenn du sie mit der der Erinnerung abgleichst, die aus deinen Aufzeichnungen spricht.
5. Wie sollte dein Motorrad-Tourenbuch aussehen?
- Nimm dir Zeit für die Suche. Das macht Spaß. In der Wintersaison, vor allem um Weihnachten, findest du die größte Auswahl in Buchhandlungen und Papiergeschäften.
- Wenn dir eines gefällt: Nimm es in beide Hände, laß deine Daumen drüber wandern und fühle intuitiv, ob es der richtige Reisegefährte für dich sein könnte.
- Größenmäßig eignet sich jegliches Format zwischen DIN A 5 (Schulheft) und DIN A 6 (Postkarte). Je nach Einsatzzweck. Kleinere Büchlein und Oktavhefte (Vokabelhefte, wie in der Schule) in DIN A 7 passen zwar prima in die Kombi, sind jedoch eher etwas für Kurznotizen und weniger etwas für die lange Tour samt eingeklebten Memorabilien.
- Da ich das Büchlein auf Tour mitnehme, muß der Einband einiges abkönnen. Robust, wasserabweisend und wischfest sollte er sein. Wer weiß, was am Etappenabend alles darüber fließen könnte. Kunststoff oder Kunstleder ist gut. Echtes Leder natürlich teurer, aber auch edler. Außerdem bekommt es mit der Zeit eine erlebnisschwangere Patina. Das macht sich gut.
- Das Papier sollte gut beschreibbar sein. Die Chinesen haben zwar das Papier erfunden. Aber vieles, was mittlerweile aus dem Reich der Mitte kommt, hat holzige Ostblockqualität, auf der sich nicht gut schreiben läßt. Mein Papierfavorit ist Clairefontaine aus Frankreich. Wer es ganz exklusiv haben möchte, kann sich natürlich bei einem Buchbinder ein Motorrad-Tourenbuch nach eigenem Geschmack konfektionieren lassen. Vielleicht als Geschenk zum Geburtstag oder zu Weihnachten?
6. Womit schreibst du?
Zwei Eigenschaften muß dein Schreibgerät für unterwegs haben: Robust muß es sein und verläßlich. Schreiben muß es, darf aber nicht unter Druck oder Hitze auslaufen. So wie die ersten russischen Kosmonauten einen Bleistift an Bord hatten und nicht wie die Amerikaner einen komplizierten, eigens entwickelten Kuli. Zumal, wenn für Grobmotoriker wie mich alles unter Schlüsselweite 21 Feinmechanik ist.
Bewährte Schreibgeräte meiner Wahl sind deshalb der Kaweco-BRASS Füller und der zugehörige Druckbleistift. Beide aus massivem Messing gefräst, unkaputtbar, gut in der Hand liegend. Damit komme ich unter allen Bedingungen nicht nur bestens zurecht; ich freue mich auch auf das Schreiben, weil die Dinger so schön sind.
7. Beschränke dich auf das Wesentliche
Was willst du nun in dein Tourentagebuch hineinschreiben? Denke dran, ein Tourentag mit dem Motorrad ist lang und inhaltsreich. Nicht jeder hat große Lust oder das Talent, sich abends noch hinzusetzen, um etwas Substantielles zu Papier zu bringen.
Deshalb rate ich dir folgendes:
- Beschränke dich auf das Wesentliche. Halte in Stichworten nur das fest, was für dich an diesem Tag wichtig war und was für die gedankliche Rekonstruktion der Etappe notwendig ist. Versetze dich in die Rolle eines Fallanalytikers bei der Kripo, dem deine Aufzeichnungen in die Hände fallen und der daraus ein genaues Bild davon zusammenpuzzelt, was du an jenem bestimmten Tag erlebt hast.
- Halte den Anfang jedes Tageseintrags ganz formal: Datum, Ort, Kilometerstand (am Abend ergänzt auf gefahrene Tagesstrecke).
- Bezeichne den Ort, wo du deine Aufzeichnungen schreibst: Am Strand? Auf einer Paßhöhe? In einer Werkstatt, die deine Panne behebt?
- Sortiere die bleibenden Eindrücke des Tages auf einer Liste. Details, die dich im Gepäck deiner Erinnerungen begleiten werden: nette Begegnungen, eine außergewöhnlichen Essen am Wegesrand, dein Campingplatz oder Hotel.
- Vergiß nicht, auf den letzten Seiten deines Motorrad-Tourenbuches deine Erfahrungen zusammenzufassen: Was habe ich auf dieser Tour gelernt? Was mache ich das nächste Mal besser? Was sollte ich künftig lieber lassen? Sieh dir diese Notizen vor deiner nächsten Tour noch mal gründlich an, das ist wirklich hilfreich.
8. Notiere auch das Unerfreuliche
Nicht jeder Tourenkilometer ist eitler Sonnenschein. Nicht immer verläuft deine Etappe vollkommen reibungslos. Schreibe deshalb auch das auf, was an einem bestimmten Tag unerfreulich war oder schief gegangen ist: die Reifenpanne, überflüssige Umwege aufgrund von Navigationsfehlern, überraschende Regengüsse, Unwohlsein nach ungewohntem Essen. Zum Trost: Solche Erlebnisse gehören unvermeidlich zu einer längeren Tour und sind (leider) die Würze der Erinnerung.
9. Schreibe aus frischer Erinnerung
Mache deine Notizen, solange die Erinnerung an das Erlebte noch frisch ist. Das macht sie authentisch. Wenn erst einmal der Trubel des nächsten Tourentages, Sonne und Regen, neue Eindrücke und Anstrengungen den vorigen Tag überlagern, geht vieles von dem vorher Erlebten unter. Später wirst du bereuen, daß du dir nicht die paar Minuten für zeitnahe Notizen genommen hast. Es lohnt sich!
10. Du brauchst weniger Zeit als du denkst
Wenn du deine Etappen geplant und deine Tagebucheinträge vorstrukturiert hast, wirst du nicht viel Zeit zum Schreiben brauchen. Bei einiger Routine werden dir 10 Minuten reichen, um dem Tag mit wenigen Worten eine schriftliche Charakteristik zu verleihen. Dazu brauchst du nicht erst bis zum späten Abend zu warten. Nutze lieber die „natürlichen Pausen“ zwischendurch: den Espresso am sonnigen Tischchen vor der Bar; die Zeit nach der Essensbestellung im Lokal; das Warten auf die Fähre oder einfach einen Tankstop.
Fazit
Das Motorradleben ist viel zu schön und zu erlebnisreich, um es der Vergänglichkeit der virtuellen Welt zu überantworten. Ein Motorrad-Tourenbuch ist dagegen ein handfestes Medium, auf das du jederzeit zurückgreifen und mit dem du deine Erfahrungen nacherleben kannst. Frei nach Goethe: „Denn was man schwarz auf weiß besitzt, // Kann man getrost nach Hause tragen.“ (Faust I, 1966 f.)
Aktualisiert am 06/12/2021 von Christian
Enkler, Jürgen
6. Dezember 2021 at 02:44
Ein wahrlich weiser Text. Ich bin seit vielen Jahrzehnten mit dem Motorrad unterwegs. Leider habe ich von vielen dieser Touren nur ein paar Fotos als Erinnerung, welche ich oft kaum noch in den damaligen Erlebniskontext integrieren kann. Das ist sehr schade, inzwischen ist leider vieles vergessen.
Seit einem Jahr führe ich nun wieder ein Tourentagebuch. Im Jahr 1986 hatte ich es allerdings schon einmal gemacht, es war eine Tour bis nach Biarritz und San Sebastian. Heute freue ich mich darüber, dass ich wenigstens diese Tour aus längst vergangenen Tagen viel besser nacherleben kann als viele spätere Fahrten. Letztes Jahr hatte ich eine Klostertour durch Bayern und Österreich gemacht, zum ersten Mal seit langer Zeit führte ich dabei wieder Tagebuch. Dieses Jahr fuhr ich mich meiner Frau im Schwarzwald, ebenfalls per Tagebuch dokumentiert.
Auf einmal besitze ich einen wahren Schatz zwischen den Tagebuchdeckeln: Erinnerungen, die mir nicht mehr abhanden kommen. Wenn ich diese Kladde in die Hand nehme, dann sind diese Erinnerungen wieder da. Erinnerungen, die sonst unwiderruflich vergessen worden wären.
Ich kann nur jedem empfehlen dem guten Ratschlag von Christian zu folgen und eine Tourenbuch zu führen.
Christian
6. Dezember 2021 at 21:48
Ich freue mich, aus Deinem netten Kommentar so etwas wie Seelenverwandtschaft herauszulesen: lange Motorradkarriere, mit der Frau auf Tour, thematische Tourenplanung und nicht zuletzt das Bedürfnis, das Erlebte bunt und dauerhaft festzuhalten. Vielen Dank, alles Gute und noch viele unfallfreie erlebnisreiche Kilometer.
Christian