Eine Motorrad-Pilgertour von Berlin nach Wilsnack beschert in der stillen Einsamkeit Brandenburgs ganz neue Erlebnisse und persönliche Erfahrungen.
Pilgerweg ist Lebensweg.
— Michael Mitterauer, österreichischer Historiker († 18.08.2022)
Motorrad-Pilgertour nach Wilsnack auf dem Wunderblutweg
Pilgertouren sind seit jeher ganz persönliche Unternehmungen, um mit sich und der Welt ins Reine zu kommen. Ob jemand aus religiösen Gründen oder nur so pilgert, spielt dabei keine Rolle. Denn das Ziel des Pilgerns ist, wie beim Motorradfahren, der Weg selbst.
Wer sich auf Pilgertour begibt, will den Alltag hinter sich zu lassen und sich auf die wesentlichen Dinge im Leben konzentrieren. Ganz individuell. Welche Dinge das im Einzelnen sind, trägt jeder in seinem Herzen und ist niemandem darüber Rechenschaft schuldig.
Aber die Erfahrung des (Pilger-)Weges muß man aber nicht unbedingt zu Fuß machen. Viele sind mit einem Tragtier unterwegs. Andere mit dem Motorrad. Warum auch nicht? Das machen wir mal! Entscheidend ist die Erfahrung des alleinigen Unterwegsseins in der Einsamkeit auf einer Strecke, deren besonderer Reiz entdeckt sein will.
Streckenkonzept
Auf unseren Touren durch Frankreich und die Pyrenäen sind wir immer wieder die Zubringerwege zum Jakobsweg nach Santiago de Compostela entlanggefahren.
Wer das Pilgern erleben will, muß aber nicht unbedingt in die Ferne schweifen. Das geht auch in der Heimat. Was wir dazu brauchen ist ein Motorrad, eine schöne Strecke, einsame Landschaft, etwas Interessantes zu sehen unterwegs und – dem Navi oder sich selbst zu Liebe – ein Ziel.
Mittelalterlicher Pilgerweg nach Wilsnack
Nur wenige wissen heute noch, daß im Mittelalter der Wunderblutweg von Berlin nach Wilsnack in der Prignitz der wichtigste Pilgerweg hinter dem nach Santiago war. Kaum vorstellbar, daß Menschen aus ganz Europa zu Hunderttausenden sich zum Heiligen Blut in der Kirche von Wilsnack auf den Weg machten. Seinerzeit galt Wilsnack als das „Santiago des Nordens“.
Nach der Reformation geriet der Pilgerweg in Vergessenheit. Ihr entrissen wurde er nicht zuletzt durch ein Projekt des Instituts für Christliche Archäologie, Denkmalkunde und Kulturgeschichte der Berliner Humboldt-Universität. Seitdem wurde der Weg wiederbelebt und erfreut sich zunehmender Beliebtheit.Unsere Motorrad-Pilgertour folgt, so gut es geht, auf befahrbaren Straßen dem traditionellen Fußweg. Sie ist in einem Tag gut zu schaffen und läßt sich toll mit Anschlußtouren durch die Prignitz oder die mittlere Elbe kombinieren.
Streckenplan der Motorrad-Pilgertour nach Wilsnack
Die zugehörige .gpx-Datei zum Nachfahren findest Du hier.
Berlin-Mitte – Hennigsdorf – Bötzow – Linum – Protzen – Wusterhausen (Dosse) – Kyritz – Görike – Wilsnack – Havelberg – Friesack – Nauen – Berlin, Großer Stern. 284 km
Berlin-Mitte – Krämer Wald
Berlin-Mitte – Tegelort – Hennigsdorf – Bötzow – Perwenitz – Börnicke – Flatow. 62 km
Unsere Motorrad-Pilgertour beginnt an der Marienkirche in der Nähe des Berliner Fernsehturms.
Dem Trubel der Innenstadt entfliehen wir über die Torstraße – Chausseestraße – Müllerstraße – Seidelstraße – Berliner Straße nach Nordwesten. Dann beginnt schon der Wald. Wir passieren das Schloß der Gebrüder Alexander und Wilhelm von Humboldt, das linker Hand in einem weitläufigen Park gelegen ist.
Anschließend folgen wir den Schildern Heiligensee / Tegelort durch den Tegeler Forst. Dann setzen wir am westlichen Ende der Jörsstraße mit der Fähre über die romantische Havel zum nördlichen Zipfel von Spandau.
Auf der westlichen Havelseite geht es über Hennigsdorf auf der L 17 / L 20 nach Bötzow. Kurz vor der A10 West erreichen wir Perwenitz. Hier legen wir eine kleine Pause ein und werfen einen Blick auf die Dorfkirche. Sie wurde nach Entwürfen des Königlichen Oberlandesbaudirektors Karl Friedrich Schinkel als „Normalkirche“ errichtet. Solche Standardbauten sind noch an mehreren Orten erhalten.
Dann geht es über die A 10 West weiter auf der L 16 nach Börnicke und dann nordwärts auf der B 273 über die A 24 weg nach Flatow.
Krämer Wald – Kyritz
Flatow – Linum – Hakenberg – Tarmow – Fehrbellin – Protzen – Garz – Nackel – Barsikow – Metzlthin – Gartow – Wusterhausen (Dosse) – Kyritz. 57 km
Die Alleenstraße L 16 von Flatow nach Fehrbellin führt durch eines der artenreichsten Vogelschutzgebiete Deutschlands. Das Örtchen Linum mit seinen geschützten Teichen und Naturlandschaften ist ein wahres Storchendorf. Die Häuser an der Ortsdurchgangsstraße verzeichnen jährliche Anwesenheit und Bruterfolg der weiß-schwarzen Großvögel.
Mit der Zeit hat sich die Gegend zu einem der größten Schlafplätze für durchziehende Kraniche in Europa entwickelt. Jeden Frühling und im Herbst machen sie hier zu Zig-Tausenden auf ihrem Flug zwischen Schweden und Afrika Halt. Während sie vor ein paar Jahren noch scheu und nur schwer aus der Nähe zu beobachten waren, haben sie sich mittlerweile eingewöhnt. Mit langem Hals schauen sie seelenruhig dem vorbeiziehenden Motorrad nach.
Geschichte und Architektur auf der Motorrad-Pilgertour
Ein paar Kilometer weiter bei Hakenberg grüßt links aus dem Wald die Siegessäule zur Erinnerung an die Schlacht bei Fehrbellin 1675. Der Sieg des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm über die Schweden begründete den Aufstieg Preußens zur europäischen Staatsmacht. Der Aufstieg auf die 30 m hohe Säule lockert die Kniegelenke und belohnt den Motorradfahrer mit einem herrlichen Rundblick über die östliche Prignitz.
Dann erblicken wir in Tarmow, dem nächsten Ort auf unserer Motorrad-Pilgertour nach Wilsnack, einen bekannten Bau: abermals eine Schinkelsche Normalkirche.
Achtung!
In Fehrbellin besteht bis Neustadt (Dosse) die letzte Möglichkeit, sich zu verproviantieren! Bei Hungergefühlen also am südlichen Ortseingang links ranfahren und beim Discounter bunkern.
Motorrad-Pilgertour in der Einsamkeit
In der Ortsmitte von Fehrbellin halten wir uns auf der K 6801 Richtung Lentzke. Nach 2 km wird es dann abenteuerlich: Wir biegen rechts ab auf den Mühlenweg Richtung Protzen durch die Einsamkeit des Rhinluchs. Jetzt hat der Motorrad-Pilger das Land ganz für sich allein.
Er teilt es allenfalls mit einem Sprung Rehe oder Bibern, die sich in den zahlreichen Wassergräben tummeln. Nur Spötter denken hier an Heinrich von Kleist, der einmal gesagt hat, die Gegend sei
„ein langweiliger Landstrich, bei dessen Erschaffung der liebe Gott offenbar eingeschlafen ist.“
Nach einem Kilometer passieren wir eine große Betonmiete und erreichen nach einem weiteren Kilometer das Örtchen Protzen.
Alte Bauten auf dem Land
An der Feldsteinkirche aus dem 13. Jahrhundert machen wir Halt. Im Kircheninnern hängt ein bezaubernder Taufengel von der Decke, den man sich nicht entgehen lassen sollte. Auch die Familiengruft der Familie von Kleist befindet sich hier. An ihrem ehemaligen Schloß, dem heutigen Dorfmuseum, fahren wir wenig später vorbei.
Nächster Kurzhalt auf unserer Motorrad-Pilgertour nach Wilsnack ist Garz. Dort biegen wir an einem denkmalgeschützten Vorlaubenhaus in der Ortsmitte links ab und fahren auf einer holperigen Feldsteinpflasterstraße am Schloß vor. Hier gibt es eine Besonderheit: einen mittelalterlichen Wohnturm aus dem 13. Jahrhundert.
In der Ortsmitte von Nackel, dem übernächsten Ort, wird es wieder rustikal: Wir biegen in der Ortsmitte rechts in den Barsikower Weg ab und erreichen auf einem Betonplattenweg Barsikow.
Nach dem Ortsende biegen bei einer Industriehalle rechts ab, wieder auf einen Betonplattenweg, und erreichen nach 1,5 km Metzelthin.
Danach geht es dann von der L 167 aus rechts ab und auf einem Sträßchen nach Gartow. Hier erlöst uns die K 6806, die uns nach Wusterhausen (Dosse) bringt.
Auf der B 5 erreichen wir einen Ort mit meinem Lieblingsnamen: Kyritz an der Knatter. Die recht hübsch renovierte Innenstadt bietet die willkommene Gelegenheit, einmal die Knochen auszustrecken. In der Johann-Sebastian-Bach-Straße lohnt ein Blick in die Stadtpfarrkirche St. Marien. Während der Saison der „Offenen Kirche“ ist sie vom 15.04. bis 31.10.2019 zwischen 13.00 Uhr und 16.00 Uhr regelmäßig geöffnet.
Schräg gegenüber lockt die sehr empfehlenswerte Bäckerei Hausbalk mit Kaffee und leckerem Backwerk.
Kyritz – Görike – Wilsnack
Kyritz – Rehfeld – Berlitt – Barenthin – Göricke – Söllenthin – Klein Leppin – Groß Leppin – Plattenburg – Wilsnack. 37 km
Hinter Kyritz öffnet sich die Prignitz. Mit gerade mal 35 Einwohnern pro km2 ist dieser nordwestlichste Winkel Brandenburgs die am dünnsten besiedelte Gegend Deutschlands. Daß „Prignitz“ im Altslawischen soviel bedeutet wie „schwer passierbare Gegend“, wird mir auf der Suche nach einem gut befahrbaren Weg durch Felder und Wälder nach Wilsnack klar.
Die Straßen sind meist holperig. Jahrhundertealtes Kopfsteinpflaster ist oft nur dünn mit einer Teerdecke belegt, das Bankett ausgefranst und sandig. Wollte ein Regisseur einen Historienfilm drehen, fände er hier eine ideale Szenerie: Endlose Alleen mit säulenartig dicken Bäumen, deren betörender Blütenduft im Frühjahr durch das Visier dringt. Mächtige Rotmilane patrouillieren über den Feldern auf der Suche nach Beute. Verschlafene Dörfer, in denen Mensch und Tier den durchfahrenden Motorradfahrer verstört beäugen.
Um diese Landschaft auf mich wirken zu lassen, halte ich in einer dieser Alleen an, stelle meine Maschine auf den Seitenständer und hole die Thermoskanne mit heißem Kaffee aus dem Tankrucksack. Wenn der Landkreis mit dem Motto „Weites Land“ um Touristen wirbt, trifft er damit wohl den richtigen Ton. Die Stille ist schon fast bedrückend. Hörbar ist allein Vogelgezwitscher aus den Buschreihen entlang der Holperstraße – bis sich ein tenorhaft krächzender Ton nähert. Ein Trabant in Taigagrün. Wie passend diese Farbe in dieser Umgebung. Eine Ikone der abgasintensiven Leistungsarmut. Seine stechende, nach ölig Verbranntem riechende Abgasfahne weist mir später noch lange den Weg, als das Plastegefährt schon weit außer Sicht ist.
Allein die Überquerung der B 107 läßt ahnen, daß diese Gegend doch nicht ganz von der Welt abgeschnitten zu sein scheint. Doch dann geht es schon wieder durch lichte Laubwälder zur Plattenburg, der ältesten erhaltenen Wasserburg Norddeutschlands.
Am Ziel der Motorrad-Pilgertour nach Wilsnack
Dahinter nehmen mich abermals Laubwälder auf. Die K 7007 bringt mich weiter nach Westen, bis ich vom Waldrand aus, wo meine Kreisstraße auf die L 10 einbiegt, über die Felder hinweg den massiven Buckel der Wunderblutkirche von Wilsnack mit ihrem kleinen Dachreiter ausmache.
Nach kurzer Fahrt durch die nett hergerichtete Innenstadt von Wilsnack biege ich zur Nikolaikirche ein. Als ich nach einer abwechslungsreichen Fahrt durch sehr viel Landschaft am Ziel meiner Motorrad-Pilgertour angekommen bin, stelle die Maschine auf dem Buckelpflaster vor dem geduckten gotischen Eingang ab. Menschen sind hier allerdings nicht sichtbar. Pilger noch weniger. Deshalb lasse ich die Ruhe auf mich wirken. Nur das regelmäßige Ticken des abkühlenden Motors ist um mich.
Wallfahrtskirche von Wilsnack
Die Größe der gotischen Hallenkirche überrascht den einsamen Besucher. Man kann sich nur ausmalen, wie betriebsam es hier vor 650 Jahren zugegangen sein mag: Pilger mit Kreuz über der Schulter, fliegende Händler mit Devotionalien, Weihrauch und lärmende Betriebsamkeit vor der Kirche. Man möchte hinzufügen: Aber heute auf dem ganzen Weg auch kein Marterl und keine Kapelle für den Andächtigen, kein gescheites Wirtshaus und schon gar kein Biergarten für den Durstigen. Dazu müßte man eine Motorrad-Pilgertour nach Bayern machen. Der einzige, mit dem ich Zwiesprache halten kann, ist der Schmerzensmann aus dem 15. Jahrhundert an der linken Chorseite.
Dann gehe ich wieder hinaus an die Sonne, hole mein Picknick aus dem Tankrucksack und genieße die Ruhe auf der alten Kirchenbank, die man für Besucher neben dem Eingang aufgestellt hat. Auch innere Sammlung gehört zu einer Motorrad-Pilgertour.
Mein Rückweg führt mich auf bequemeren Wegen über Havelberg — Rhinow — Friesack — Nauen zurück ins turbulente Berlin.
Aktualisiert am 26/08/2022 von Christian