Eine Motorrad-Maitour in Russland macht das Aufblühen des ganzen Landes zum einzigartigen Erlebnis, das dem normalen Touristen meist vorenthalten bleibt.
Alles neu macht der Mai
Eine Motorrad-Maitour in Russland bietet die erste Chance, die junge Motorradsaison zu genießen. Schlammperioden und frühe Winterstürme machen sie ohnehin extrem kurz. Also bei den ersten Strahlen der Frühlingssonne dorthin fahren, wo etwas los ist: in die Klosterstadt Sergijew Posad, dem früheren Sagorsk.
In dieser Jahrezeit schwärmen Heerschaaren von Gärtnern aus, um in den Städten alles zu bepflanzen, was sich bepflanzen läßt. Parkanlagen, Zierbeete, Denkmalanlagen, Verkehrsinseln, Mittelstreifen. Und auch sonst alles, was sich nicht gegen Begrünung wehrt. Nach einem langen, trüben Winter erstrahlt Moskau in frischem Bunt.
Zur gleichen Zeit machen sich auch die Aktivisten mit Farbkübeln und Pinseln auf den Weg. Immer getreu dem alten Marinemotto: „Was sich bewegt, wird gegrüßt – was sich nicht bewegt, wird angestrichen.“ Zäune und Geländer, Stangen und Masten: Alles wird Opfer eines kollektiven, landesweiten Anstreichwahns, der sich hauptsächlich in einem Rußland-typischen Pfefferminzgrün austobt. Verständlich, nach langen, grauen Wintermonaten.
Heitere Frühlingsstimmung macht sich allenthalben breit. Autos werden hergerichtet für die Fahrt ins Grüne. Denn das Gesetz verlangt, daß sie bis dahin total verdreckten Nummernschilder wieder lesbar sein müssen.
Dazu verlocken die ersten Feiertage im Mai: Die „Tage des Frühlings und der Arbeit“ dauern in Rußland vom 30. April bis zum 2. Mai. Und natürlich der 9. Mai, der „Tag des Sieges“ (1945 über Deutschland), der inzwischen mehr und mehr zu einem Familientag geworden ist. Vielfach werden die historischen Ereignisse nachgespielt oder zumindest nachempfunden.
Motorrad-Maitour in Russland
Auch wenn wir uns einen schwierigen Weg durch endlose Autokolonnen bahnen müssen, machen wir uns nordwärts auf den Weg nach Sergijew Posad. Heute nehmen wir die 70 Kilometer auf uns, um das Dreifaltigkeitskloster aus dem Jahre 1340 zu besuchen.
Doch der Weg aus Moskau hinaus wird so anstrengend, wie wir das schon auf früheren Touren erlebt haben. In einer endlosen Blechlawine schieben wir uns hinaus in die Provinz. Sobald es geht, weichen wir auf einen parallelen Feldweg aus, um die unzähligen Autos ungestört zu passieren. Auf der Autobahn wird es dann besser, denn viele unserer Mitausflügler sind unterwegs schon in ihre Datschen abgebogen.
Wunder des Motorradfahrens in Russland
Natürlich sind wir nicht die einzigen, die zum Kloster wollen. Das wird uns spätestens an der Einfahrt in unseren Zielort schmerzlich bewußt. Stau, Stau, Stau. Absperrungen. Polizei mit diensteifrigen Minen.
Doch auf dieser Motorrad-Maitour in Russland erleben wir das Verkehrswunder von Sergijew Posad: Bei unserem Anblick hellen sich die Gesichter der Polizisten auf. Denn wir sind für sie BMW-Kollegen. Deshalb werden wir auch auf Nebenwegen exklusiv zum Ziel geleitet. Autos machen uns bereitwillig Platz und lassen uns zwischen den Kolonnen durchfahren. Kinder und Omas winken uns aus den voll bepackten Fahrzeugen zu.
Sobald wir am Kloster angekommen, sichert uns ein beleibter Ordnungshüter einen Super-Parkplatz am Eingang. So einen Service habe ich in der westlichen Welt schon öfter vermißt.
Dreifaltigkeitskloster Sergijew Posad
Auch wenn das Kloster als Touristenmagnet entsprechend bevölkert ist, lohnt es unbedingt einen Besuch. Zum Besichtigen wie auch zum Studium der Landessitten.
Zunächst einmal muß sich Christine kleidungsmäßig aufrüsten. Denn Frauen ist es in orthodoxen Klöstern nicht erlaubt, Hosen zu tragen. Die Landessitte verlangt deshalb, daß Christine sich am Eingang einen Rock leiht und ihn über ihre Motorradkombi zieht. Statt des Helms trägt sie nunmehr vor dem Betreten der Kirche ein buntes Kopftuch. Obwohl wir irgendwie wunderlich aussehen, nimmt niemand davon Notiz.
Da wir den heiligen Ort nicht ganz ohne Segen zu verlassen wollen, laben wir uns an dem geweihten Wasser aus dem Klosterbrunnen. Dann erstehen wir im Klosterladen für unseren Sohn Georg eine kleine Ikone seines Namenspatrons und ein orange-braun gestreiftes Georgs-Ordensband. Am Siegestag trägt das hier jeder. Aber wir sind uns nicht ganz sicher, ob wie es als Deutsche auch tragen sollen/dürfen. Deshalb stecken das Band vorsichtshalber erst einmal in die Tasche.
Der Siegestag
Was dann passiert, hatten wir so nicht vorausgesehen: Wir werden von den Siegesfeiern mitgerissen. Soldaten der örtlichen Garnison paradieren an uns vorbei. Großmütter und Eltern winken ihren Jungs zu. Zum ersten Mal erlebe ich, daß Soldaten bei einem Vorbeimarsch mit einem Lachen auf dem Gesicht paradieren.
Dann umringen uns Kadetten der Suworow-Militärschule. Als sie mitbekommen, daß wir Deutsche sind, lassen sich gerne fotografieren. Guter Stimmung unterhalten sie sich mit uns.
An einem Sanitätsfahrzeug treffen wir zwei Veteraninnen mit vollem Ordensschmuck. Sie erzählen uns, daß sie den ganzen Krieg mitgemacht haben. „Das war unsere Jungmädchenzeit“, sagen sie achselzuckend.
Zeichen der Versöhnung
Etwas weiter ab parkt ein aufgemöbelter sowjetischer Militärlaster, der zweckmäßigerweise zum Food Truck umgerüstet wurde. Wir stehen in der Schlange an. Nachdem man uns als Deutsche erkannt hat, werden wir sofort freundschaftlich eingemeindet. Denn wir sollen das Kriegsende doch mit ihnen mitfeiern! „Unser Diktator ist tot. Eurer auch. Feiern wir also für den Frieden.“ Worauf wir uns in einer eß- und trinkfreudigen Runde wiederfinden.
In einer Nebenstraße treffe ich einen ordensgeschmückten Veteranen, der von seinem Enkel am Arm geführt wird. Er schaut mich an, nickt, und als ich nach Landessitte mit dem Wunsch „с праздником“ („Frohes Fest“) grüße, kommen wir ins Gespräch. Er erzählt uns von seiner schweren Verwundung vor Berlin 1945 und jahrelangem Leiden im Lazarett. Dann stößt er einen unsagbar groben Fluch auf den Krieg aus, den ich hier besser nicht wiedergebe.
Mit einem Lächeln nimmt er mich am Arm und fordert seinen Enkel auf: „Sascha, mach ein Bild von uns“. Warmherzige Versöhnung am Friedenstag. Als wir dann wieder nach Moskau zurückbrausen, flattert das orange-braune Georgsband an unserem Rückspiegel.
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Aktualisiert am 05/03/2021 von Christian