Eine herbstliche Motorradtour in Russland an den Ufern der Moskwa läßt die Provinz mit Dörfern, Kirchen, Klöstern und die Last der Vergangenheit erleben.
Jede Tour beginnt auf der Magistrale
Eine herbstliche Motorradtour in Russland bietet die letzte Chance, noch einmal auf Strecke zu gehen, bevor der kalte Wind über die russischen Weiten zu wehen beginnt. Denn bald schon wird überraschender Schnee die Saison beenden und das Tourenfahren für die nächsten Monate eine schöne Illusion werden lassen. Auf in die Provinz!
Motorradfahren ist reiner Luxus für die meisten Russen wegen der wenigen klimatisch annehmlichen Monate im Jahr. Jedenfalls, was Motorradfahren nach unseren westlichen Maßstäben angeht. Das macht hier einen westlich gekleidetem Fahrer auf westlicher Maschine zur viel beachteten Ausnahmeerscheinung.
Für eine längere herbstliche Motorradtour in Russland ist es in dieser Jahreszeit schon zu spät. Aber ein Tagesausflug hat immer noch seinen Reiz. Zum Beispiel eine Tour entlang der Moskwa im Podmoskowie, dem Umland der russischen Hauptstadt. Ein Erlebnis ganz eigener Art …
Aus Moskau aufs Land hinauszukommen ist eine Sache für sich. Brutaler Verkehr, der jeden unter 250 PS zum underdog macht. Hier gilt das Gesetz des Stärkeren. Allerdings genießen Motorradfahrer respektvollen Artenschutz. Denn man weiß ja nie, wer unter dem Helm steckt und welche Unannehmlichkeiten eine unbedachte Annäherung bringen könnte. Und Unannehmlichkeiten sind in Rußland wirklich unangenehm.
Schleichwege innerhalb oder außerhalb der Stadt gibt es nicht. Denn das gesamte Straßennetz erstreckt sich sternförmig vom Nullpunkt am Roten Platz aus in das weite Riesenreich. Deshalb ist der eigene Bewegungsspielraum auf diese Magistralen und die Ringstraßen beschränkt, die sich mehr oder weniger sehr weit um Moskau herum ziehen. So manches verlockende Seitensträßchen endet schon nach wenigen Kilometern im Nichts. Und Nichts in Russland ist wirklich NICHTS.
Streckenführung für die herbstliche Motorradtour in Russland
Also begibt man sich erst einmal auf eine der Magistralen. Kollektivschicksal.
Tanken macht Spaß in Rußland
Zunächst steuere ich meine Stammtankstelle an und fülle das Spritfaß bis Oberkante Unterlippe. Mit weniger fahre ich nie los, denn Tankstellennetz ist, wie in der Mitte der USA, sehr dünn. Denn auch in Rußland gilt die Regel:
See gas – get gas
Aber der Sprit ist gut. Mit Rosneft Super Plus geht meine R 1200 GS ab wie Schmidts Katze. Und bei einem Literpreis von weit unter einem Euro macht das Tanken wirklich Laune.
Dazu ist die Tankstelle ist hochmodern, das Warenangebot im Laden reichlich. Da ein nettes Gespräch mit anderen Kunden kommt immer zustande kommt, nimmt man meist einen angenehmen Eindruck mit auf den Weg. Während ich mit dem Zapfhahn hantiere, beobachte ich die gläubigen Muslims zum Gebet in die benachbarte Moschee strömen. Auch bei dieser Gelegenheit wird deutlich: Russland ist ein großes multiethnisches und multireligiöses Land.
Raus aus der Metropole
Dann biege ich mit gefülltem Tank westwärts auf den Kutusowski Prospekt ein. Benannt nach dem russischen Heerführer M. I. Kutusow, dem Napoleon das Scheitern seines Rußlandfeldzuges 1812 maßgeblich mit verdankt.
Diese Chaussee ist meine Lieblings-Ausfallstraße, da sie mit ihren vielen Fahrspuren nur selten zugestaut ist. Hier reihen sich repräsentative Wohnhäuser der 30er Jahre, in denen u. a. auch Leonid Breschnew wohnte.
Josef Stalins Datscha:
Der Schatten des Diktators
Bevor ich den wegen seiner Verkehrsstaus berüchtigten Autobahnring (MKAD) überquere, passiere ich im Stadtteil Kunzewo ein geheimnisvolles Parkgelände. In ihm liegt Josef Stalins Datscha „Grüner Hain“ verborgen. Hierhin zog er sich nach dem deutschen Einmarsch 1941 tagelang zurück. Hier plante er den Sturm auf Berlin. Hier starb er am 5. März 1953. Gut zu merken: fünf-drei-fünf-drei.
Die Allee der Oligarchen
Heute residieren die modernen Herrscher Rußlands ein Stück weiter an meiner Tourstrecke. In einem weitläufigen Villenviertel entlang der Rubljowo-Uspenskoje-Chaussee im Vorort Barwicha. Luxusläden reihen sich aneinander, eine Ferrari-Niederlassung und vieles mehr. Verdächtig viele neutral aussehende Fahrzeuge stehen vor den verdeckten Einfahrten, Miliz sowieso. Ohne guten Grund sollte man hier wohl nicht einfach anhalten. Wahrscheinlich akkumuliert sich hinter all diesen hohen Mauern und Zäunen soviel Geld, wie es dem Bruttosozialprodukt eines kleineren Staates entsprechen würde. Das Spalier der Verkehrspolizisten läßt mich zunächst ungerührt passieren.
Der Arm des Gesetzes
Wenige Kilometer weiter ist es aber soweit. Ein hypertonisch wirkender GAI-Polizist winkt mich energisch mit seinem schwarz-weißen Ringelstöckchen an den Straßenrand zur Kontrolle.
Ich nehme meinen Helm ab, erkundige mich höflich nach seinem Ansinnen und frage ihn, was ich denn als deutscher Staatsbürger für ihn tun könne. Da hellen sich seine Gesichtszüge auf, wir kommen ins Gespräch und er kriegt sich kaum ein wegen meiner BMW. „очень красивый аппарат“, kommentiert er. ‚Ein sehr schönes Gerät‘.
Mit wechselseitiger Bekundung guter Wünsche verabschieden wir uns. Da mir seine Kollegen auf den folgenden Kilometern verhalten zunicken, nehme ich an, daß er meine Bonität weitergemeldet hat. Wenn die Russen wollen, dann können sie …
Russische Landschaft an der Moskwa
Meine herbstliche Motorradtour in Russland erreicht jetzt endlich in die offene Landschaft. Dies ist meine Lieblingsgegend im Podmoskowje, dem Moskauer Umland. Dann kommt bei Petrowo-Dalnjee kommt der träge dahinziehenden Fluß in Sicht. Für die nächsten Kilometer geht die Fahrt an den Hügeln des breiten Moskwa-Tales entlang.
Am Ufer sitzen zwei Angler in der Hoffnung auf ein Fischchen. Ein dritter kokelt schon am Grill herum. Ein Blick in den offenen Kofferraum ihres Lada läßt erahnen, daß sie ernährungstechnisch noch einiges vorhaben. Und das darf nicht zu trocken von statten gehen. „Lieber zu viel gegessen als zu wenig getrunken“, sagt man hier.
Gott wacht am Weg
Nachdem ich dem Zaren in Gestalt seiner Büttel die Aufwartung gemacht habe, ist der Herrgott dran. In dem Örtchen Dmitrowskoje halte ich an einer strahlend weiß gestrichenen Kirche mit goldenen Zwiebelkuppeln. Im Innern herrscht reger Betrieb, ein ständiges Kommen und Gehen.
Ich tue es den Einheimischen gleich und erwerbe bei einem alten Mütterchen im Vorraum eine stricknadeldünne Bienenwachskerze, die ich vor einer Ikone entzünde. Auch habe ich mir angewöhnt, in einer Kirche das große orthodoxe Kreuz zu schlagen.
Allerdings brauche ich mir nicht einzubilden, hier als Fremder unerkannt zu bleiben. Mit Rukka-Kombi und Schuberth-Helm ist man in Rußland ungefähr so unauffällig wie ein Bräutigam mit rosa Osterhasenkostüm bei einem Junggesellenabschied. Das Wohlwollen der Menschen ist aber geradezu körperlich spürbar. Ein angenehmes Gefühl für einen wißbegierigen westlichen Gast in diesem Land.
Die Erinnerung an den Krieg ist allgegenwärtig
Friedlich bleibt meine herbstliche Motorradtour in Russland nicht, denn wenige Kilometer weiter holt mich unsere gemeinsame Geschichte ein: An einer Weggabelung halte ich an einer Stalinorgel, die man dort als Kriegsdenkmal aufgestellt hat. Am Sockel ist eine Tafel angebracht, auf der zu lesen ist, daß in der Nacht vom 24. Zum 25. Oktober 1941 hier zum ersten Male ein Mehrfachrekatenwerfer dieses Typs eingesetzt wurde.
Ein paar Straßenkreuzungen weiter steht ein weiteres Denkmal mit einer „Ratsch Bumm“, der berühmten sowjetischen 76-mm-Divisionskanone. Die Gedenktafel dahinter erinnert an den Frontverlauf im Winter 1941.
Während ich einen Apfel essend vor dem Denkmal stehe, versuche ich, mir die Situation von damals zu vorzustellen. Gleichzeitig denke ich dankbar an die Freundlichkeit, mit der mir eine Viertelstunde vorher die Menschen in der Kirche begegnet sind.Provinzstadt Swenigorod
Danach steigt die Straße steil zur Talschulter hoch. Von weitem ist das Dorf Grjas mit einem schloßartigen Gebäude auszumachen. Es gehört einem Schauspieler, der die russische Version von „Wer wird Millionär?“ moderiert hat. Er selbst hat offensichtlich dieses Ziel erreicht.
Zur Provinzstadt Swenigorod hin belebt sich die Straße merklich. Zeit für eine Kaffeepause. Das schwarze Getränk ist sehr ordentlich. Auf jeden Fall verläßlich genießbarer als das, was einem unter diesem Namen in Frankreich angeboten wird.
Über die Stadt scheint sich das übliche Wochenend-Phlegma gelegt zu haben. Sie wirkt merkwürdig leer. Mit Ausnahme einer beträchtlichen Zahl von „Alkonauten“, die die Straßen bevölkern.
Ich bleibe jedoch bei 0,0 ‰ und gehe auf Nordkurs. Was folgt, sind endlose Wälder. Hie und da mal ein Waldweg, der wer weiß wohin führt. Und dann, aus dem Nichts, steht plötzlich eine füllige Frau im kanariengelben Bademantel und Plastikschlappen am Waldrand. Eine rationale Erklärung für diese merkwürdige Erscheinung will mir nicht einfallen.
Dann gehe ich nördlich der Autobahn M-9 wieder auf Ostkurs Richtung Moskau. Lichte Birkenwälder wechseln sich mit Feldern und Brachland ab. Ein halbes Dutzend Dörfer lockert die Route etwas auf.
Das Kloster von Istra
In Istra mache ich Halt an dem 1656 gegründeten Neu-Jerusalemer Auferstehungskloster. Daher auch der frühere Name der Stadt, Воскресенск, was sich vom russischen Wort für „Auferstehung“ ableitet. Ein imposanter Gebäudekomplex, aufwendig restauriert. Im Winter 1941 war das Kloster von Deutschen besetzt und diente einer Panzer-Instandsetzungseinheit als Unterkunft. Beim Rückzug wurde es teilweise zerstört.
Ich setze meine herbstliche Motorradtour in Russland in südlicher Richtung fort und fahre wieder auf die Moskwa zu. Ein paar Kilometer weiter stoße ich wieder auf meine alte Route, die mich nach Moskau zurückführt. Noch einmal suche ich meine Tankstelle neben der Moschee auf, mache den Tank randvoll und hoffe, daß dies nicht die letzte Füllung vor der Winterpause sein muß.
Ähnliche Beiträge:
Aktualisiert am 05/03/2021 von Christian