Bei einer Motorrad-Hausrunde ins Abseits läßt man den Alltag hinter sich und bekommt den Kopf wieder frei. Wie geht das in der Umgebung von Berlin?
Der Weg ist das Ziel
Wie sollte eine Motorradtour aussehen, die puren Fahrspaß vermittelt? Wo allein die Schönheit der Strecke zählt. Wo man kein großartiges Besichtigungsprogramm unternimmt, sondern fährt, fährt, fährt. Und abends erfüllt mit herrlichen Eindrücken die Maschine in der heimischen Garage wieder auf den Ständer schiebt.
Ideen dazu hätte ich mehr als genug. Nachdem ich es in diesem Jahr leider nicht zur Mille Miglia geschafft habe und mir die Anfahrt in die Alpenländer im Augenblick zu weit ist, muß ich mir etwas anderes suchen. Deshalb muß eine Motorrad-Hausrunde ins Abseits des Berliner Umlandes vorerst reichen.
Streckenführung der Motorrad-Hausrunde ins Abseits
Um mir den Kopf freiblasen zu lassen, fahre ich dort hin, wo man nichts als pure Natur um sich hat: in den linken unteren Havelbogen westlich von Brandenburg. Dorthin, wo der Naturpark Westhavelland beginnt.
Die zugehörige .gpx-Datei zum Nachfahren findest Du hier.
Berlin – Ketzin – Brandenburg (Havel) – Plaue – Parey – Gülpe – Rhinow – Schönholz – Dickte – Friesack – Nauen – Brieselang – Falkensee – Berlin.
240 km
Von der Hauptstadt an die Havel
Die Tour ist am schönsten, wenn man gaaanz früh startet. Wenn auf den Straßen nur Zeitungsausträger, Straßenreinigung und Supermarkt-Zulieferer unterwegs sind, dann ist man im Nu dem Moloch der Stadt entronnen und hat die offene Strecke vor sich.
Schon nach kurzer Zeit empfängt einen die alleenbestandene Bundesstraße 2. Sie ist für mich die schönste Landstraße, die aus einer europäischen Hauptstadt hinausführt. Sobald man das Ortsschild auf der linken Seite passiert hat, ist man schon mitten im Grünen. Dort spenden Alleen Schatten in der frühen Morgensonne. Die Wälder rauschen, Getreidefelder wogen. Wo sonst hat man das noch vor den Toren einer Metropole?
Hier beginnt meine eigentliche Motorrad-Hausrunde ins Abseits: Bei Krampnitz kurz vor Potsdam schlage ich einen scharfen Haken rechts Richtung Fahrland. An der früheren Heeresreitschule vorbei führt mich die Landstraße über Paretz nach Ketzin an die Havel.
An der Havelfähre in Ketzin lege ich erst einmal einen Stop ein und warte mit ein paar morgendlichen Radfahrern auf die Überfahrt. Ein leistbares Vergnügen für 2 Euro.
Don’t pay the ferryman,
Don’t even fix a price,
Don’t pay the ferryman,
Until he gets you to the other side
— Chris de Burgh
Während sich die Fähre träge über den spiegelglatten Fluß auf das Gegenufer zubewegt, bleibt genug Zeit, den Natureindruck der Flußlandschaft zu genießen: Bläßrallen schwirren über das Wasser, ein Schwan lugt mit langem Hals aus dem Schilf, ein Schof Enten macht zum Gruß einen fly by, Fische schnappen sich Insekten von der Wasseroberfläche.
Dann wird es Zeit, sich wieder in den Sattel zu schwingen. Schon legt die Fähre mit einem Ruck an der Auffahrrampe an. Die Stimmung ist fast zu schön, um sie mit einem Druck auf den Anlasserknopf wieder zu stören.
Von Ketzin nach Brandenburg
Nach der Auffahrt auf den Haveldamm ziehe ich erst einmal beide Hebel und stelle die Maschine ab. Dann blicke über das weite Land und nehme mir bei meiner Motorrad-Hausrunde ins Abseits einen Augenblick Zeit für einen ruhigen Rundblick.
Bis kurz vor Brandenburg führt meine Strecke auf krummen Sträßchen durch weites Kusselgelände. Dabei erlebe ich die Morgenstimmung in den kleinen Dörfern der Havelauen. Bäckereifahrzeuge öffnen die Seitenklappe für ihre Kundschaft. Quengelnde Kinder werden in die KiTa verfrachtet. Kurzbehoste Postbotinnen beginnen mit ihrer Austragrunde.
Wenn man unser Zielgebiet im westlichen Havelland erreichen will, hat man streckenmäßig nur die Wahl zwischen Pest und Cholera: entweder fährt man über die Autobahn oder man nimmt die B 1. Da ist mir für die nächsten 22 km die Bundesstaße lieber. Erinnerungen werden dabei wach an unsere frühere Tour von Königsberg über Danzig nach Berlin auf ihrer Vorläuferin, der früheren Reichsstraße 1.
Erleichtert biege ich auf die L 962 Richtung Norden ein, bevor die Bundesstraße die Havel quert.
Von Brandenburg zum Naturpark Westhavelland
Als nächstes komme ich auf meiner Motorrad-Hausrunde ins Abseits nach Briest. Der Ort ruft in Erinnerung, wie sehr sich Theodor Fontane bei seinem Altersroman Effi Briest von Örtlichkeiten inspirieren ließ, die er im Laufe seines Lebens besucht hatte.
Die folgenden 20 km bis Premnitz führen dicht an der westlichen Havel entlang. Unsere Weggefährten sind Wasservögel, vereinzelte Angler am Ufer und Wassersportler, die ihre Boote zu frühsommerlicher Ausfahrt rüsten. Es läßt sich zügig fahren und man bekommt trotzdem viel zu sehen.
In Premnitz wird es Zeit für eine Kaffeepause. Wegen der frühen Stunde ist es leider nicht einfach, ein stärkendes Heißgetränk zu bekommen. In einem an sich sehr netten Ufercafé werde ich gestreng darauf hingewiesen, daß man (ungeachtet der biertrinkenden Rentner an der Theke) noch nicht geöffnet habe. Gnädigerweise bekomme ich dann doch einen Pott Kaffee angeliefert.
Schon allein wegen dieses Erlebnisses werde ich bei einer Wiederholung meiner Motorrad-Hausrunde ins Abseits eine Thermosflasche mit Kaffee mitnehmen. Dann bin ich unabhängig und lasse mich lieber auf einer netten Uferbank am ehemaligen BuGa-Gelände nieder. Eindeutig die bessere Option.
Weitere 20 km sind es dann bis zum Hohennauener See. Die Strecke ist schön locker zu fahren, unterbrochen nur durch die Stadtdurchfahrt von Rathenow. Der Lauf der Havel bleibt dabei immer links im Blick.
Fahrt zum Vogelschutzgebiet
Die folgende Etappe ist der schöne Kern unserer Tour: Sie beschreibt einen Halbbogen vom Hohennauener See über Parey und Gülpe nach Rhinow. Auf gewundenen Landstraßen und (gut befahrbaren) Pflasterwegen führt sie an einem ausgedehnten Vogelschutzgebiet in der Havelniederung entlang. Die Strecke verläuft immer außerhalb des Schutzgebietes.
Dort lohnt es sich, die Maschine einmal abzustellen, den Helm abzunehmen, einen Augenblick in sich zu gehen und einfach nur zu schauen und zu lauschen. Man hört – nichts. Nichts außer dem Gezwitscher und dem Flügelschlag der Vögel.
Eine weitere Besonderheit: Das gesamte Gebiet mit einer Ausdehnung von 1.380 km² ist als Lichtschutzgebiet ausgewiesen. Besonders die nördliche Hälfte ist aufgrund der dünnen Besiedlung und dem Fehlen größerer Ortschaften so dunkel wie in Namibia. Der Naturpark Westhavelland wurde am 2014 zum ersten Sternenpark Deutschlands ernannt und ist willkommenes Ziel für alle Sternenfreunde und Hobbyastronomen, um der zunehmenden Lichtverschmutzung der Stadt zu entkommen.
Die Fahrt durch dieses Gebiet ist ein Erlebnis ganz besonderer Art. Störche drehen mir aus nächster Nähe ohne Scheu ihre Köpfe nach. Andere begleiten mich mit weiten, kräftigen Flügelschlag.
Im Naturschutzgebiet
In Gülpe frage ich nach einer Badegelegenheit in einem der nahegelegenen Gewässer. Doch es gibt nichts. Kein Wunder: Auch die umliegenden Gewässer sind Schutzgebiet. Von der Straße aus finde ich einen Wanderweg, der mich zu einem Beobachtungsturm führt. Auf seiner überdachten Plattform richte ich mich mit meinem Picknick häuslich ein. In Sichtweite tummelt sich eine unglaubliche Vielfalt von Vögeln.
Während ich genüßlich an meinem Sandwich kaue, dreht vor mir ein Fischadler suchend seine Runden über dem See. Plötzlich stürzt er sich halsbrecherisch hinab, greift zielsicher seine Beute aus dem Wasser, schwingt sich mit schweren Bewegungen wieder auf und entschwindet mit seinem Fisch in den lichtblauen Himmel. Allein dieses Erlebnis war das frühe Aufstehen wert.
Vom Vogelschutzgebiet in das Ländchen Rhinow
Auf einsamen Straßen ziehe ich flott weiter und mache Halt an meiner Lieblingsbäckerei in Rhinow, um mir noch ein kleines Dessert samt Kaffee für die letzte Etappe zu gönnen.
Am Ortsausgang von Stölln zweige ich von der Landstraße auf ein namenloses Teersträßchen ab. Vom nächsten Hügel aus eröffnet sich mir ein fremdartiger Anblick: Eine IL-62 der Interflug mitten im Gelände. Sie steht am Rande des Hügels, an dem der erste Flieger Otto Lilienthal tödlich abstürzte.
Weil ich weiter ungestört fahren möchte, setze ich meinen Weg über Schönholz fort und von dort über einen abermaligen Plattenweg nach Dickte. Bauern winken mir vom Traktor aus freundlich zu; so verboten kann der Weg also nicht sein.
Ehemalige Großfunkstelle Nauen
Zur letzten Etappe fädele ich mich in den Verkehr auf der Bundesstraße 5 ein. Von Nauen aus suche ich mir den Weg zur ehemaligen Großfunkstelle. Sie hatte in ihrer Geschichte verschiedene technische Funktionen. Während des Zweiten Weltkrieges diente sie mit einem Längstwellensender der Führung der deutschen U-Boote bis weit hinein in den Südatlantik.
Auf solchen Ausflügen in die freie Natur bleibt man nicht unbeobachtet:
Da ich keinerlei Lust verspüre, mich am frühen Nachmittag in den Trubel des beginnenden Feierabendverkehrs zu stürzen, nehme ich die Paralleltrasse zurück über Brieselang und Falkensee nach Berlin-Spandau. Die Tour endet, wie sie begonnen hat: mit einer entspannenden Fahrt durch den Wald im Dunstkreis der Hauptstadt.
Aktualisiert am 23/05/2022 von Christian