Kunst und Krad: Nach der großen Tourensaison warten immer noch ungewöhnliche Tourenziele, die sich an schönen Herbsttagen ganz individuell erschließen lassen. Das reizt zum Nachfahren und erweitert zugleich den Horizont – nicht nur den fahrerischen.
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Unerwartete Tourenideen
Manche Motorradtour nimmt einen eigentümlichen Anfang: Eine lockere Kaffeeplauderei an der Tankstelle initiiert die Runderneuerung des ursprünglichen Tourenplans; eine astronomisch lange Umleitung über Land führt auf Strecken, die man sonst nie gefahren wäre; eine schwarze Gewitterfront nötigt zu abruptem Kurswechsel mit unerwarteten Perspektiven. Expect the unexpected – das macht das Tourenleben erst richtig bunt.
Bei mir kam die Initialzündung dieser Tage auf dem Olympiagelände in Berlin: Wann immer mich meine Tour Richtung Westen führt, biege ich auf das weitläufige Gelände ein. Ein Viertelstündchen Geschicklichkeitstraining bringt dann meine Fahrfreude so recht in Wallung: flotter Slalom, enge Achter, Schneckenkreisel im Kriechtempo und zum guten Schluß eine harte Bremsung mit vollem Griff in die Eisen. Das macht nicht nur Laune, sondern verleiht auch ein souveränes Fahrgefühl für den Rest des Tages.
Kunst am Bau
Die schüchternen Fahrschüler, die dort vorsichtig ihre ersten Runden drehen, sind dabei nicht meine einzigen Beobachter. Mehr noch ruht auf mir der gestrenge Blick übermannsgroßer muskulöser Skulpturen, die das Stadion umstellt halten. Heroen des akademischen Superklassizismus von Künstlern wie Karl Albiker, Josef Thorak oder Arno Breker.
Die steinernen Muskelprotze wirken ebenso überhöht wie ihre Schöpfer, die einst auf der Liste der Gottbegnadeten standen: von ganz oben großzügigst gefördert, unantastbar und für den Kriegsdienst tabu.
Während ich in den stahlblauen Herbsthimmel blinzle, fügen sich diese Eindrücke zu einem Puzzle zusammen: Arno Brekers „Staatsatelier“ in Berlin-Dahlem, sein Privatatelier im Oderbruch und der benachbarte Gebäudekomplex, der als größte Kunstmanufaktur Europas die germanische Welt mit Kunstwerken versorgen sollte.
Das möchte ich mir einmal im Zusammenhang ansehen. Zumal die wissenschaftliche Diskussion dieser Kunstrichtung in den vergangenen Jahren neue Wendungen genommen hat. Darüber hinaus hat eine Motorradtour an diese Örtlichkeiten jetzt im bunten Herbst einen besonderen Reiz. Auf geht’s!
Kunst und Krad
Meine Tour beginnt am „Staatsatelier“ des Bildhauers Arno Breker. Auf Weisung seines großen Gönners von der Stadt Berlin „geschenkt“, wurde 1939 ein nobles Waldgrundstück in Berlin-Dahlem ausgeholzt, um darauf einen architektonischen Solitär zu erreichten, der ein passendes Ambiente für künstlerische Selbstdarstellung des diktatorischen Staates schaffen sollte.
Viele der pharaonenhaften Kolossalstatuen entstanden jedoch nicht dort. Zu groß war die Gefahr, daß von den nunmehr folgenden 310 Bombenangriffen auf Berlin auch das Atelier getroffen würde. Doch es hat überlebt. Heute ist das Gebäude mit Kunstmuseum und Gartencafé ein überaus friedlicher Ort, der sich als Ausgangs- oder Zielpunkt für Touren in das Berliner Umland geradezu anbietet.
In das Oderbruch
Meine Strecke führt mich in einem weiten Bogen nach Nordosten in das Oderbruch. Dort, bei Wriezen, bezog Arno Breker ab 1942 sein Ausweichatelier. Ein Rittergut, Geschenk seines obersten Sponsors zum 40. Geburtstag.
Irgendein Opfer muß man immer bringen, wenn man aus dem Berliner Zentrum heraus zu einer Tour startet: Stau, Stadtautobahn oder meist auch beides auf einmal. Aber heute habe ich Glück, meine Zeitkalkulation klappt und nach einer guten Stunde bin ich „schon“ am Stadtrand. Links ahne ich den Müggelsee durch den Herbstwald schimmern, „Berlins Badewanne“. Wenig später quere ich den Autobahnring, dahinter herrscht endlich die ersehnte Ruhe. Stiller, sonniger Herbst ruht über meinem Sträßchen an der oberen Spree entlang. Hie und da ein Radfahrer oder ein Traktor, ansonsten gehört die Route ganz allein mir.
But straight with all their tints thy waters rise.
— Samuel Taylor Coleridge (1772 – 1834), To the River Otter
Hinter Müncheberg, B1/B5 Richtung Polen, ziert sich das Hügelland mit dem Prädikat „Märkische Schweiz“. So sehr man darüber auch schmunzeln mag, die Strecke am Schermützelsee entlang ist landschaftlich reizvoll. Theodor Fontane blieb hier bei seiner Tour durch die Mark mit seiner Kutsche im Sand stecken.

Kurzer Stopp am Schermützelsee in der Märkischen Schweiz, allerdings an einem kalten Nachmittag im Februar
Sobald es dann wieder sanft bergab geht, breitet sich auf ganzer Linie das Oderbruch im milden herbstlichen Dunst aus. Mein Picknickplatz am See vor der Klosterruine Altfriedland ist ebenso verlassen wie die Gegend, die ich die ganze Zeit schon durchcruise. Aber genau das ist es ja, was ich heute gesucht habe und brauche.
Rittergut Jäckelsbruch
Das flache Odervorland ist zwar fahrerisch wenig spektakulär, aber Alleen, Kolonistendörfer aus friderizianischen Zeiten, alte Bäume und Windmühlen spenden eine wohltuende innere Ausgeglichenheit.
Kurz vor der Alten Oder führt mich die Landstraße zu einem Wäldchen, das keinerlei Besonderheiten zu bergen scheint. Inmitten dieses verwilderten Parks liegt aber das Landgut, ein Staatsgeschenk an den Bildhauer Arno Breker, damit er ungestört von Krieg und Bombenhagel arbeiten konnte. Hierzu wurde das Anwesen aus dem Portefeuille des Generalbauinspektors für die Reichshauptstadt Berlin üppig finanziert.
Als ich das Gelände durchstreife (mit gebotener Diskretion, da teilweise privat), wird mir klar, daß so ein Refugium für jeden Künstler ein Eldorado sein muß: ein großzügiges Atelier mit angegliedertem (aber bei Kriegsende zerstörtem) Gutshaus und einem Schwimmbecken von fast olympischen Ausmaßen samt eigener Pumpstation im Park. Vieles wirkt verwildert, steigert dadurch aber noch den idyllischen Gesamteindruck.
In dieser Abgeschiedenheit entstand die Mehrzahl der großformatigen Bildwerke Brekers. Aus dem Unterholz heraus gewinnt für mich das Geflecht von Macht, Kunst, Ideologie und Verstrickung eine ganz neue Dimension.

Das Pumpenhaus für den Privatpool. Solide gebaut im sog. „Heimatstil“, wie er auch bei Autobahnraststätten zum Einsatz kam.
Kunstmanufaktur Wriezen
Vier Kilometer weiter, am Ortseingang von Wriezen, spüre ich den Überresten dessen nach, was dereinst als größte Kunstmanufaktur Europas geplant war: Die Steinbildhauerwerkstätten Arno Breker GmbH, in denen der monumental-heroische Skulpturenschmuck Arno Brekers für die geplante Neugestaltung der Reichshauptstadt Berlin gefertigt werden sollte. Samt Gleis- und Hafenanschluß für den Transport der riesigen Steinblöcke. Wie bei den Pharaonen am Nil, nur mit Eisenbahn.
Als dann im Februar 1945 die Rotarmisten vor dem Werkstor standen, mag ihnen solche Kunst gar nicht besonders fremdartig erschienen sein. In Moskau findet sich ja Ähnliches.
Rückfahrt nach Berlin
Über all das im einzelnen zu reflektieren, bewahre ich mir für zu Hause auf. Vorerst verschaffe ich mir ein wenig innere Distanz bei einem tiefen Schluck aus meiner Thermosflasche und bei einem Sprung über die Oder – zum Tanken. Mit 1,59 €/Liter fülle ich großzügig mein Spritfaß und die gnädige Steuerkasse der Republik Polen.
Dann geht es über die Oderbrücke wieder zurück nach Deutschland und Heidewitzka die Serpentinen an den Oderhängen hinab Richtung Bad Freienwalde. Mächtige Herbstalleen begleiten mich bis an den Berliner Autobahnring, auf dem ich mich im Geschwindschritt überzeugen kann, daß der Polensprit so kraftlos nicht ist – schließlich blubbert er ja aus der Raffinerie Schwedt in polnische Tankwagen.
Als ich schließlich die Berliner Stadtmitte erreiche, glänzt mir in der tiefstehenden Sonne die goldene Victoria auf der Siegessäule entgegen. Ein Schlußkapitel zum Thema Kunst und Krad.
Fazit
Wenn die große Tourensaison einmal abgeschlossen ist, lohnt immer noch die Suche nach ungewöhnlichen Tourenzielen, die sich – je nach persönlichem Interesse – erschließen lassen. Das reizt zum Nachfahren und erweitert zugleich den Horizont – nicht nur den fahrerischen.
Streckenführung
Die zugehörige .gpx-Datei zum Nachfahren findest du hier.
Landkarte
ADAC Regionalkarte Blatt 6 Berlin und Umgebung 1:150 000: Müritz bis Spreewald
Aktualisiert am 10/12/2022 von Christian
Martha
16. Oktober 2022 at 09:57
Ihr habt da eine schöne Tour gemacht, das nächste Mal könnt Ihr uns auch in Beeskow besuchen;)
Lohnt sich auch immer hier
Christian
17. Oktober 2022 at 17:29
Wir kommen gerne vorbei, nach vorheriger Anmeldung, versteht sich. Ihr wohnt ja auch in einer sehr schönen Gegend!
ingold sefafini
17. Oktober 2022 at 20:11
Tolle Reise…wie immer! Würde sie gerne nachmachen,aber habe kein Motorrad. Vielleicht mit dem Fahrrad? Bissel weit!!! Ich finde die Reisebeschreibungen jedenfalls immer super und danke Dir,Christian. Auf ein Neues!!! LG von ingold serafini und Holger Dohmen.
Christian
18. Oktober 2022 at 16:13
Danke für die Blumen! Die Ziele im Stadtbereich von Berlin sollten sich aber mit dem Fahrrad ganz gut erkunden lassen.
Liebe Grüße
Christian