Die komplexe Blickführung beim Motorradfahren beruht auf einem feinen Zusammenspiel von visueller Wahrnehmung und motorischer Handlung. Wie funktioniert das?
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Blickführung als Lebensversicherung
Der Fahrlehrer hat sie uns eingeimpft, die Fahrpraxis hat sie zur Routine gemacht und in puncto Fahrsicherheit ist sie überlebenswichtiger Teil unserer Fahrkunst: die richtige Blickführung in der Kurve. Gemeint ist damit der weit vorausschauende, vor und zurück pendelnde Blick, der sich nicht nur in die Kurve hinein und auf deren Ausgang richtet, sondern auch das zu erahnen sucht, was hinter die Kurve ablaufen und uns zum Verhängnis werden könnte.
Soviel zum Allgemeingut des Motorradfahrens. Hinter der Blickführung steckt jedoch mehr Komplexität, als uns zunächst bewußt ist. Was läuft dabei in unserem Kopf ab und wie beeinflußt dies unsere Fahrtechnik?
Blickführung beim Motorradfahren ist Kopfsache
Am Ende eines kilometerreichen Tourentages stellt sich das wohlige Gefühl ein, daß der Körper zum dynamischen Fahrerlebnis seinen pflichtgemäßen Beitrag geleistet hat. Er hat sich gewunden und gedreht, um die Maschine in die richtige Lage und die gewünschte Richtung zu bringen. Hände und Füße haben geschaltet, gebremst und gedrückt. Ein leicht beweglicher Kopf hat unseren Blick nicht nur in Zielrichtung geführt, sondern auch dorthin, wo Gefahr drohen könnte. Die dafür nötige körperliche Fitness hat sich ausgezahlt.
Der Kurvenblick steuert die Gashand
Wie anstrengend die Motorradtour für Kopf und Sinne war, wird uns meist erst dann bewußt, wenn der abendliche Blick auf das Entspannungsbier seeehr entspannt ist. Spätestens dann merken wir, daß Motorradfahren vor allem auch Kopfsache ist und damit wesentlich anstrengender als Autofahren. Warum ist das so?
- Das hohe Niveau der Konzentration muß während der Fahrt konstant aufrecht erhalten werden;
- sicheres Fahren erfordert aktive Rückmeldung vom Blick zum Hirn. Dieses wiederum erarbeitet eine permanente Lagebewertung in bezug auf die wahrscheinlich eintretende Fahrsituation;
- das Wahrgenommene muß konsequent in komplexes motorisches Handeln umgesetzt werden;
- und schließlich ist der Motorradfahrer direkt äußeren Faktoren ausgesetzt, die seine Wahrnehmungsfähigkeit beeinträchtigen: ungünstige Witterung, hohe Geschwindigkeit, deutliche körperliche Beanspruchung.
Damit sieht sich der Motorradfahrer zwei großen Herausforderungen gegenüber:
- der richtigen Reaktion auf seine visuelle Wahrnehmung und
- der konsequenten Umsetzung von Wahrnehmung in motorische Handlung.
Sehen und Steuern
Der britische Neurobiologe Michael F. Land ( s. u. Kapitel 7 „Driving“) hat mit Hilfe von Blickerfassungssystemen (Eye Trackern) untersucht, auf welche Weise unsere Augen automatisch bestimmten Gehirnregionen Informationen zuweisen, die zur Kontrolle und zum Einsatz unserer Körperglieder benötigt werden. Auf diese Weise konnte er die Mechanismen identifizieren, mit denen das System der Augenbewegung die Körperglieder zu bestimmten Aktionen veranlaßt und sie kontrolliert. Dies illustriert er an Hand verschiedener Bewegungssportarten und auch am Beispiel des Autofahrens.
Dabei kommt er zu dem Ergebnis, daß das System der Augenbewegung autonom zu Informationen gelangt, um über das Gehirn die Körperbewegung zu steuern. Auf diese Weise sind jeder motorischen Handlung bestimmte Augenbewegungen zugeordnet, die beide parallel erworben werden.
Blickführung beim Fahren
Bei diesen Untersuchungen wird offenkundig, daß hinter der Blickführung, wie wir sie in der Fahrschule gelernt haben und beim Motorradfahren praktizieren, eine wesentlich höhere Komplexität steckt. Es geht nicht allein darum, „auf das Kurvenende zu schauen“. Wie Land nachweist, fixiert der Fahrer unbewußt den Tangentenpunkt einer Kurve. Der Blickwinkel (bezogen auf die Fahrtrichtung vor dem Kurveneingang) sagt ihm den weiteren Kurvenverlauf voraus. Dieser Blickwinkel wiederum liefert Signale für die weitere Kontrolle der Arme, die das Fahrzeug lenken.

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Hier liegt der große Unterschied zwischen dem „Normalfahrer“ und dem trainierten Profi-Rennfahrer: Während der Normalfahrer dem Tangentenpunkt über eine relativ lange Zeit durch den Kurvenverlauf folgt, reicht dem Profi eine kurze Kopfbewegung, um den Tangentenpunkt zu fixieren. Der Lenkimpuls paßt sich – mit einem durch die Fahrdynamik bestimmten Zeitverzug – automatisch der Blickrichtung an und das Fahrzeug zieht „automatisch“ durch die Kurve (Land, S. 122 – 129). Wer Potential für die Verbesserung seiner Kurventechnik sucht, wird hier sicher einen Ansatz finden.
Rennpraxis: Memorieren der Strecke
Eine wesentliche Voraussetzung für die automatisierte Blickführung besteht – so Land – darin, daß der Rennfahrer zunächst eine Skizze der Rennstrecke erarbeitet. Er memoriert die Strecke und fährt sie mit Hilfe der Tangentenpunktfixierung allein aus seiner Erinnerung heraus. Mit dieser Technik ist er in der Lage, vorauszusehen, wie er die Kurve zu nehmen hat.
Damit wird das Lenken nicht zu einer Abfolge einzelner Ausführungsschritte, sondern ein motorisch zusammenhängender Lernprozeß, der Blickrichtung, Kopfhaltung und Lenkvorgang miteinander kombiniert.
Alltägliche Fahrpraxis: Vom Sehen zum motorischen Handeln
Allerdings ist die Situation auf der Rennstrecke nur sehr begrenzt mit der Alltagssituation des Motorradfahrens vergleichbar. Vor allem, weil das Motorradfahren im Alltag durch weitere Faktoren geprägt:
- höhere Komplexität (Straßengewirr in der Stadt, Autobahnkreuze),
- Interaktion unterschiedlicher Verkehrsteilnehmer aus unterschiedlichen Richtungen und
- regulatorische Beschränkungen (Verkehrsampeln, Verbotsschilder, Tempolimit usw.).
Deshalb kommt es beim Fahren in diesem Umfeld weniger auf die Fixierung auf den Tangentenpunkt an als auf die Umsetzung komplexer Wahrnehmungen in motorische Handlung.
Strategien von Blickführung und Fahrhandeln
Aufgrund der genannten Faktoren sind im Alltag des Motorradfahrens vor allem zwei Strategien entscheidend:
- die Fähigkeit, aufgrund einer im Gedächtnis gespeicherten Fahrerfahrung unerwartete bzw. kritische Verkehrssituationen vorauszusehen und die eigene Fahrweise darauf einzustellen;
- die Fähigkeit, den Fluß der verkehrsbezogenen Wahrnehmungen bewußt, aber auch instinktiv in erforderliche Fahrhandlungen umzusetzen.
Hier liegt wahrscheinlich der entscheidende Knackpunkt, denn diese Strategien lassen sich nur begrenzt im Fahrschulunterricht vermitteln. Vielmehr handelt es sich um ein vielfältiges Erfahrungswissen, das erst durch längere, stetige Fahrpraxis erworben werden kann. Und dabei hilft nur eines: Fahren – Fahren – Fahren und beständig üben.
Hinzu kommt, daß auf längerer Tour die Wahrnehmungsfähigkeit des Motorradfahrers in anderer Weise beeinflußt wird als die des Autofahrers:
- Er neigt dazu, sich an konstant hohe Geschwindigkeiten (z. B. bei längeren Autobahnfahrten) zu gewöhnen und dadurch weniger sensibel auf plötzlich eintretende Tempoverminderung zu reagieren;
- er vollzieht beim Fahren repetitive Handlungen (z. B. im Stadt- und Kolonnenverkehr),
- oder es fehlt ihm (in der Regel) die aufmunternde Interaktion (z. B. mit einem Mitfahrer).
Fazit
Blickführung beim Motorradfahren ist eine weit komplexere Handlung, als es zunächst den Anschein hat. Das feine Zusammenspiel von visueller Wahrnehmung und motorischer Handlung ist nicht allein neurologisch bedingt. Im Interesse eines optimierten Fahrstils wie auch der eigenen Sicherheit erfordert er darüber hinaus permanentes Training im Alltag des Motorradfahrens.
Weitere Informationen
Land, Michael F. ; Tatler, Benjamin W.: Looking and Acting : Vision and Eye Movements in Natural Behaviour. New York: Oxford University Press, 2009. -ISBN 978-0-191-69387-8. S. 1-269
Aktualisiert am 05/11/2021 von Christian
Lukas Kiermeyr
3. November 2021 at 09:56
Danke Christian, hervorragend.
Christian
3. November 2021 at 12:44
Lieber Lukas, herzlichen Dank für das Schulterklopfen. Ich freue mich, daß diese nicht ganz einfache Materie Dein Interesse gefunden hat!