Lust auf Alpenpässe in Savoyen mit dem Motorrad: Iséran, Galibier, Mont Cenis, Col du Télégraphe, Col de la Madeleine. Ein spannendes, erfüllendes Bergerlebnis.
Der Berg ruft
Und alle meine Berge mache ich gangbar,
und alle meine Straße werden hoch dahin führen.
— Jesaja 49, 11
Mit dem Motorrad ein Wochenende lang seiner Lust auf Alpenpässe in Savoyen freien Lauf zu lassen ist kolossal spannend: Iséran, Galibier, Mont Cenis, Col du Télégraphe, Col de la Madeleine. Die Pässe haben spannende Geschichten zu erzählen. Doch ist kluge Tourenplanung für ein erfüllendes Bergerlebnis unerläßlich.
Da die höchsten Alpenpässe erst ab Ende Juni/Anfang Juli befahrbar sind, mußte ich mich mit dieser Tour leider bis zum Hochsommer gedulden. Und wenn schon: Warum dann nicht gleich auf den Col d’Iséran, den höchsten auf einer befestigten Straße befahrbaren Alpenübergang? Oder den Galibier? Warum nicht auch über den Mont Cenis einen Abstecher nach Italien machen? Dafür gibt’s anschließend als besondere Zugabe noch den Col du Télégraphe und den vortrefflichen Col de la Madeleine. Insgesamt fünf motorisierte Bergtouren in zwei Tagen.
Fernblick auf das Kurvenrevier
Am Freitag Nachmittag wartet die Maschine betankt und bepackt in der Garage. Dann setzt der magische Druck auf den Anlasserknopf den Motor in wohlige Bewegung. Schon nach zehn Minuten nimmt mich die Autobahn auf. Richtung Chambéry, auf das herrliche Bergland Savoyens zu.
Der Wochenendverkehr ist heute unerwartet mäßig. Deshalb kann ich es voller Lust auf Alpenpässe in Savoyen sehr zügig laufen lassen. Wie von selbst gibt nach einiger Zeit mein innerer Autopilot die intuitive Marschgeschwindigkeit vor.
Kaum hat mich das sommerfrische Fahrgefühl ergriffen, erhebt sich schon am Horizont die von Schönwetterwolken bekrönte Alpenkulisse. Von da an gewinnt die Berglandschaft den Charakter eines 3D-Kinos. Jeder Gedanke an Renntempo ist wie weggeblasen.
Nur muß ich mich wundern, warum an einem solchen Bilderbuchwochenende kaum Motorradfahrer unterwegs sind. Auch als ich später auf der Terrasse meines Stammhotels in Séez sitze, ist der fly by von Motorrädern eher bescheiden. Hoffentlich ist es noch morgen früh so, wenn ich meiner Lust auf Alpenpässe in Savoyen freien Lauf lassen werde.
Lust auf Alpenpässe und gutes Essen in Savoyen
Gastronomisch hätte dieser Tag nicht schöner enden können: Eine Salade Savoyarde mit Beaufort-Käse, gefolgt von einer Gebirgsbach-Forelle mit Safransosse und einem Sabayon mit Waldbeeren. Dazu ein weißer Apremont aus Savoyen, mineralisch, kristallin und frisch. Ein idealer Begleiter für mein Fischlein.
Mittlerweile versinkt die Sonne tieforange hinter den Bergen und taucht die Osthänge in warmes Licht. Wenig später tauche ich in mein Bett und freue mich auf die morgendliche Bergstimmung. Die Nacht ist erfrischend ruhig. Alles, was ich höre, ist das Ticken meiner Armbanduhr auf dem Nachttisch.
Col de l’Iséran
Ein fabelhafter Tag beginnt: Bilderbuchwetter mit wolkenlosem Himmel, sonnenbeschienenes Hochgebirge und Bergstraßen ohne Ende. Die Lust auf Alpenpässe in Savoyen treibt mich hinaus.
Nach einem guten, wenn auch nicht unbedingt reichhaltigen Frühstück lasse ich mich die Serpentinen hinunter nach Séez rollen. Dort erstehe ich in der örtlichen Bäckerei ich als erster Kunde des Tages ein knüppelartiges Brot. Dann folge ich frohgemut dem Wegweiser „Col d’Iséran“.
Zu dieser frühen Stunde habe ich die Straße bis zum Gipfel ganz für mich. Die Zweiradfahrerwelt scheint noch im tiefen Schlaf zu liegen. Denn wie sagt der Prediger Salomo so schön:
Der Faule dreht sich im Bett wie die Tür in der Angel.
— Sprüche 26, 11
Aber mir soll’s recht sein. Bergauf lasse ich es immer etwas frischer angehen. Die Serpentinenstrecke absorbiert meine ganze Aufmerksamkeit. Der Iséran läßt sich wunderbar und problemlos fahren. Bei Steigungen zwischen 7 – 12 % geht es flott nach oben. Die Kombination aus GS + Oehlins + Road Attack 2 ist in der Bergen einfach nicht zu schlagen. Vielleicht nur noch von einer KTM. Aber die ist mir persönlich etwas zu raubauzig.
Höhenrekord
Ehe ich mich versehe, bin ich bei 2.770 m auf der Paßhöhe angelangt. Damit ist die erste Rekordmarke für heute geschafft: Denn jetzt stehe ich auf dem höchsten auf einer befestigten Straße befahrbaren Gebirgspass der Alpen. Hier bläst mir der eiskalte Wind um die Ohren. 6° über Null zeigt das Thermometer. Aber die unendliche Ruhe und der weite Rundblick entschädigen mich über die Maßen.
Um mir die Beine ein wenig zu vertreten, umrunde ich noch die Iséran-Kapelle mit ihren wuchtigen Natursteinmauern. Ein lohnender Aussichtspunkt ist auch der „Belvédère de la Tarantaise“ an der Nordrampe auf ca. 2.530 m Höhe. Er gibt einen wunderschönen Ausblick auf Val d’Isère frei.
Mont Cenis
Dann lasse ich mir bei einer bedächtigen Talfahrt Zeit, um das einzigartige Panorama zu genießen. Doch viel zu früh erreiche ich Lanslebourg im Tal des Arc. Von hier aus biege ich südwärts in die Berge ab Richtung Mont Cenis. Während aus der Gegenrichtung lange Karawanen italienischer Wohnmobile unnötigerweise den Verkehrsfluß lähmen, läuft es in meiner Richtung noch erfreulich gut. Der Grenzpaß zwischen Frankreich und Italien hat Erstaunliches zu bieten.
Europas höchster Stausee
Nach 9,8 km Bergfahrt öffnet sich auf der Paßhöhe (2.083 m) ein herrlicher Blick über den Lac du Mont Cenis. Wie ein riesiger polierter Türkis liegt er da, eingebettet in das grüne Hochtal. Noch ein Rekord für heute: Ich stehe am Ufer des von höchstgelegenen Stausees Europas. Unter seiner Oberfläche schlummern die versunkenen Ruinen eines früheren Hospizes und des Forts Cassa.
Kälterekord mit Zweitakter
Auch früher gab es schon Verrückte: Am 10. Januar 1914 bezwang der italienische Ingenieur und Rennfahrer Adalberto Garelli bei klirrender Kälte und tiefem Schnee den 1.925 m hohen Paß. Auf seinem ersten komplett selbst gebauten Motorrad mit 350-cm³-Zweitaktmotor mit zwei Kolben zur Gassteuerung (Doppelkolbenprinzip). Dabei ging es ihm darum, die Zuverlässigkeit des von ihm entwickelten Motors unter Beweis zu stellen. Was schließlich auch gelang.
Mont Cenis Summit Railway
Was vielleicht nur wenige wissen: Über diesen Paß verlief von 1868 bis 1871 (bis zur Eröffnung des Tunnels von Fréjus) die Lebensader des British Empire, die All Red Route. Britische Postzüge rollten durch Frankreich, quälten sich 77 km auf einer Steigung von bis zu 9 % über den Mont Cenis, um dann in Italien das Mittelmeer zu erreichen. Von dort aus ging es per Schiff durch den Suez-Kanal nach Indien und Hongkong. Überreste von Tunnels und der Trasse erinnern heute noch an diese Zeit.
Die südliche Paßrampe
Was mich am Mont Cenis besonders reizt, ist die auf italienisches Gebiet führende südliche Paßrampe. Einige Kilometer passiere ich das östliche Seeufer, erreiche den aufgeschütteten Staudamm und folge dann einer gedrängten Serpentinenstrecke bergab. Ein Meisterstück alpiner Straßenbaukunst.
Daß ich dabei in guter Gesellschaft bin, erkenne ich nicht zuletzt an einem Fotografen, der in einer engen Kehre kauert und Bilder von schräglagesüchtigen Motorradfahrern schießt. Die Fotos sind dann in der nächsten Kneipe käuflich zu erstehen, wahrscheinlich zu einem saftigen Preis.
Daß ich in Italien gelandet bin, merke ich erst, als ich mich auf einem Parkplatz meines Pullovers entledige und das bekannte ENEL-Schild am benachbarten Trafohäuschen erspähe. Wie schön, daß Europa so eng zusammengewachsen ist.
Col du Télégraphe
Weil sie so schön ist, fahre ich die gleiche Strecke zurück über den Paß und erreiche bei Lanslebourg wieder das Tal der Maurienne. Einige Kilometer flußabwärts, bei Saint-Michel, biegt dann meine Route nach Süden ab. Während mich die herrliche 11 km lange Serpentinenstrecke 854 in die Höhe bringt, liegt die eigentliche Paßhöhe des Col du Télégraphe ein ganzes Stück weiter oben, nämlich auf 1.566 m.
Der optische Telegraph
Eigentlich ist der Col du Télégraphe nichts weiter als ein nördlicher Vorpaß des noch höheren Galibier (2.645 m ). Der Name des Passes erinnert mich an den Telegrafenturm, den ich bei einer Motorradtour durch das Beaujolais besichtigt habe. Er gehörte zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu einem Netzwerk optischer Telegrafentürme in Frankreich. Dieser hier signalisierte auf der Linie Lyon – Turin – Mailand – Venedig. So muß man sich ihn vorstellen:
Während ich mir auf der Paßhöhe einen Kaffee gönne, gerate ich in eine wahrhaft babylonischen Umgebung. Ich als schweigsamer Deutscher. Links neben mir ein Rudel redseliger Italiener. Hinter mir einige gutturierende Franzosen und dann noch eine Gruppe holländischer Radler. Das ist mal Internationalität auf den Bergen.
Col du Galibier
Nach einem halben Stündchen rüste ich mich zur Weiterfahrt. Dann kann ich aber doch nicht dem Wegweiser zum Col du Galibier widerstehen. Es sind nur 18 km bis dort hin. Diesen Paß auszulassen, das wäre doch zu schade. Schließlich und endlich habe ich diese zwei mal achtzehn Kilometer so wenig bereut wie selten etwas zuvor.
Denn der Galibier ist mit einer Höhe von 2.642 m der fünfthöchste befestigte Straßenpaß in den Alpen. Fahrerisch ist er einfach Sonderklasse – trotz seiner durchschnittlichen Steigung von „nur“ 6 %.
Wegen seiner majestätischen Gestalt und seiner phänomenalen Streckenführung zählt der Col du Galibier zu meinen Lieblingspässen. Nicht zuletzt ist er einer der berühmtesten Anstiege der Tour de France. So komplettiert er, nebst Alpe d’Huez, Mont Ventoux und Col du Tourmalet meine Sammlung besonderer Bergstrecken.
A côté du Galibier, les autres sommets sont de pale et vulgaire ‚bibine‘; devant ce géant, il n’y a plus qu’a tirer son chapeau et saluer bien bas.
Gegen den Galibier sind alle anderen Gipfel schlicht und ergreifend nur ’schwaches Gesöff‘; da kann man zum Gruß nur ganz tief den Hut ziehen.
— Henri Desgrange (1865 – 1940), Begründer der Tour de France
Ich winde mich in eine überwältigende Berglandschaft empor, finde mich bald im Reigen der umgebenden Gipfel und verspüre, trotz der zahlreichen Besucher, so etwas wie Bergeinsamkeit.
Europas höchste Verkehrsampel
Auf dem letzten von insgesamt 18 Kilometern der Nordauffahrt öffnet sich das Portal des Scheiteltunnels. Zu beiden Seiten regelt eine Verkehrsampel den durch ihn geführten Einbahnverkehr. Mit einer Höhenlage von 2.574 m ist diese Ampel die höchstgelegene Lichtsignalanlage Europas. Noch ein Rekord am heutigen Tage.
Angesichts des umwerfend schönen Panoramas, vor allem auf dem Mont Blanc im Norden, verharre ich viel länger als geplant auf diesem Belvedere. Dann gondele ich die gleiche Strecke wieder talwärts zurück.
Durch das Tal der Maurienne
Schließlich finde ich an einem rauschenden Gebirgsbach, der Maurienne, einen sonnigen Picknickplatz. Deshalb fällt mir auch später der Aufbruch von diesem schönen Plätzchen nicht leicht.
Opinel-Messermuseum
Auf der Landstraße erreiche ich in sanften Schwüngen mein Etappenziel St.-Jean-de-Maurienne. Gerade noch bleibt mir ein wenig Zeit zum Besuch des Musée Opinel: Hier ist der Stammbetrieb, der Firma, die die bekannten einfachen Klappmesser herstellt. Der Museumsladen bietet das gesamte Sortiment feil. Wer Mitbringsel sucht …Interessant ist auch der Film über die Messerherstellung, der dort als Dauerschleife läuft.
In einem kleinen Lokal gönne ich mir erst einmal eine Pizza nebst zwei Bier und hinterher im Hotel eine wohlverdiente Mütze Schlaf. Dann reicht es aber auch. Call it a day.
Col de la Madeleine
Vor Tag und Tau bringt mir der Nachtportier mein Hotelfrühstück. Noch vor Sonnenaufgang entschwinde ich in der kühlen Morgenluft Richtung Col de la Madeleine. Schon nach den ersten Kilometern wird mir klar, warum dieser Paß auf der Tour de France „HC“ firmiert, hors catégorie. Aber so häßlich die 10 %ige Steigung und die 180°-Kehren für die Radler auch sein mögen: Ich genieße jeden der 19 Kilometer Bergfahrt in vollen Zügen und mit weit offenen Drosselklappen.
Nachdem ich auf der Paßhöhe von 1.993 m angelangt bin, stehe ich mit meiner Maschine mutterseelenalleina. Doch das Verweilen auf der Passhöhe mit klarem Bergblick auf die Lauzière-Kette bietet ein Bergerlebnis der Sonderklasse.
Ich suche mir ein Panorama-Bänkchen, stöpsele die Kopfhörer in mein Telefon und drehe auf. Richard Strauß, „Eine Alpensymphonie“. Großartig. Eine knappe Stunde lang versetze ich mich in eine andere Welt. Nur zögernd kehre ich dann zur Maschine zurück, setze die Mechanik in Bewegung und überlasse uns der Gravitation.
Bei der folgenden Talfahrt bin ich mutterseelenallein. 28 km geht es hinab, über unzählige Serpentinen und bei einem Gefälle von bis zu 10 %. Mein Blick richtet sich nach unten auf zahllose Mäander, Felsformationen und Wasserfälle. Ich öffne das Visier, denn jetzt am sehr frühen Morgen verströmt die üppige Gebirgsflora ihren Duft am intensivsten.
Heimfahrt, schweren Herzens
Unvermittelt hat mich in Feissons-sur-Isère die Zivilisation wieder. Der Anblick von Häusern, Kreuzungen und Parkplätzen katapultiert mich zurück in den nüchternen Alltag. Die Lust auf Alpenpässe in Savoyen aber bleibt.
Unwillig folge ich der Nationalstraße 90 und dann der Autobahn. Aber es geht nun einmal nicht anders.
Denn auf den Bergen, ja, gilt die Freiheit,
Ja auf den Bergen ist es gar so schön …
— Bayerische Volksweise.
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Aktualisiert am 20/06/2021 von Christian